«Eine Vereinfachung ist möglich, wenn alle ihre Ansprüche reduzieren»

Hansjürg Jäger, Dozent für Agrarpolitik an der Hochschule HAFL, spricht über die Stärken und Schwächen der Agrarpolitik, den Einfluss des Marktes und die Herausforderungen der Zukunft. Besonders die Balance zwischen Marktkräften und staatlicher Steuerung sieht er als zentrale Aufgabe.
Zuletzt aktualisiert am 20. Februar 2025
von Jonas Ingold
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Jgh1 Forum

Zur Person

Hansjürg Jäger ist Dozent für Agrarpolitik und -märkte an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften HAFL in Zollikofen. Zuvor war er unter anderem als Geschäftsführer der Agrarallianz und stv. Chefredaktor der Bauernzeitung tätig. 

Ziel der Schweizer Agrarpolitik ist unter anderem die Förderung einer Landwirtschaft, die nachhaltig und für den Markt ausgerichtet produziert. Ist das aktuell der Fall?

Was die Marktausrichtung angeht, ja. Die hergestellten Produkte finden Absatz. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Landwirtschaft am Bedarf vorbei produziert.

Und bezüglich Nachhaltigkeit?

In Bezug auf die Umwelt zeigt der aktuelle Agrarbericht, dass in den letzten 30 Jahren die negativen Umweltwirkungen tendenziell zurückgegangen sind. Dies vor allem im Bereich der Ammoniak-Emissionen, der Phosphorbilanzen und auch, was die Biodiversität angeht. Die Richtung stimmt also. Aber es gibt noch Bereiche, die Probleme bereiten. Ein Beispiel sind die Stickstoffverluste. Und wir müssen natürlich die wirtschaftliche Komponente der Nachhaltigkeit beachten, konkret die Einkommensentwicklung der Betriebe, die in der Landwirtschaft stark diskutiert wird. Es ist also eine gemischte Bilanz, was die Nachhaltigkeit angeht.  

Sie haben die wirtschaftliche Nachhaltigkeit angesprochen. Produzentenpreise sind ein grosses Thema, zumindest seit den letztjährigen Protesten auch in der Öffentlichkeit. Welchen Einfluss kann und soll die Agrarpolitik hier nehmen?

Die Agrarpolitik hat sich mit der Reformbewegung der letzten 30 Jahre explizit aus der Preisbildung verabschiedet. Es soll nicht mehr die Aufgabe des Staates sein, die Preise festzulegen. Sondern die Aufgabe des Marktes resp. der Marktakteure, welche die Preise verhandeln. Das äussert sich darin, dass der Detailhandel in den Branchenorganisationen z.B. mit Käsereien, Milchhändlern und Landwirtinnen über den Richtpreis für Milch verhandelt.

«Die Richtung stimmt. Aber es gibt noch Bereiche, die Probleme bereiten.»

Es wird eine transparentere Preispolitik gefordert, die zu besseren Produzentenpreisen führen soll. Das Bundesamt für Landwirtschaft hat z.B. den Fachbereich Marktanalyse, welcher Marktbeobachtungen durchführt. Kann das zu besseren Produzentenpreisen führen?

Als der Staat die Preise nicht mehr festgelegt hat, wollte man dennoch Transparenz haben, um einen funktionierenden Markt zu ermöglichen. Deshalb wurde für jene Produkte, bei denen der Staat noch intervenierte – Milch, Fleisch, Getreide – eine staatliche Preisbeobachtung eingeführt. Mit der Agrarpolitik 11 wurde das weiterentwickelt zu einer Marktbeobachtung inklusive Angebot, Nachfrage und genereller Entwicklung. Jetzt gibt es Bestrebungen, das noch zu erweitern. Es soll nicht mehr reichen, die Preise der Produkte zu kennen, sondern es soll offengelegt werden, wer wie viel an einem Produkt verdient. Die Frage ist aber, wo die Grenze liegt. Es gibt verschiedene politische Vorstösse diesbezüglich, auch im Hinblick auf die Agrarpolitik 2030.

Ist es zielführend, wenn politische Vorstösse die Marktbeobachtung instrumentalisieren möchten?

Ich denke nicht, dass das zielführend ist. Der Bundesrat schreibt in den Antworten konsistent immer, dass er bereit und offen dafür sei, die Marktbeobachtung weiterzuentwickeln. Der Bundesrat warnt vor den negativen Folgen von Markttransparenz. Diese könnte die im Kartellrecht festgeschriebenen Verbote für Preisabsprachen aushebeln. Wenn wir nun auch noch die Margen anschauen würde, was äusserst komplex ist, hätten wir zudem einen starken Eingriff in die Wettbewerbsfreiheit. Ich kann verstehen, dass man in der Politik die Meinung vertritt, da müsste mehr gehen. Es ist aber meines Erachtens vor allem wichtig, dass die Zusammenarbeit zwischen den Akteuren gut funktioniert, dass sich die Branchen auf Mechanismen einigen, damit alle eine akzeptable Ausgangslage haben.

Wir haben jetzt den Detailhandel angesprochen. Dieser gestaltet die Preise mit. Und er führt immer öfters auch strengere Regeln für ihre Produzentinnen und Produzenten ein, wie etwa im Gemüsebau. Haben mittlerweile die Grossverteiler agrarpolitisch mehr Einfluss als der Bund?

Es kommt darauf an. Dort, wo es um Nachhaltigkeitsbestrebungen geht, wo es darum geht, dass die Konsumenten mit an Bord sind, hat der Handel eine grosse Verantwortung. Die Grossverteiler folgen der SBTi (Anm. d. R: Science Based Targets initiative) und anderen Initiativen, um klimaneutral zu werden. Das hat logischerweise Wirkung entlang der ganzen Lieferkette. Für einen Detailhändler ist es einfacher, neue Regeln einzuführen als für die Politik, die das ganze Parlament plus die Stimmbevölkerung überzeugen muss, um etwas zu verändern. Es zeigt sich dementsprechend deutlich, dass die Marktakteure klar mehr Willen haben, Dinge zu versuchen, die politisch schwieriger umsetzbar sind. Andererseits sind die Entscheide, die von der Politik kommen, gesellschaftlich legitimiert. Sie entsprechen dem Willen der Bevölkerung und haben eine grössere Verbindlichkeit als jene des Marktes.

«Für einen Detailhändler ist es einfacher, neue Regeln einzuführen als für die Politik.»

Ein Dauerbrenner ist die hohe Komplexität der Agrarpolitik, verbunden mit viel administrativer Arbeit für die Bäuerinnen und Bauern. Das Problem wird zwar immer wieder angegangen, aber zufrieden ist wohl noch niemand damit. Lässt sich die Agrarpolitik mit einer weiteren Weiterentwicklung überhaupt vereinfachen oder bräuchte es einen kompletten Neuaufbau?

Eine Vereinfachung des bestehenden Systems ist dann möglich, wenn sämtliche Akteure die Ansprüche an die Agrarpolitik reduzieren.

Aber das ist utopisch.

Wahrscheinlich ja. Denn alle Akteure werden daran gemessen, dass sie ihre Ansprüche an die aktuelle Agrarpolitik hochhalten. Es würde also wahrscheinlich eine Neugestaltung des ganzen Systems brauchen. Es gibt aber aktuell eine grosse Trägheit im System sowie keinen grossen Druck von aussen dafür. Bei der Reform in den 1990er-Jahren war das anders: die Agrarpolitik war innenpolitisch nicht mehr mehrheitsfähig und aussenpolitisch sorgte der Abschluss der Uruguay-Runde für grossen Anpassungsbedarf beim Grenzschutz. Das Agrarbudget ist mit 3,5 Milliarden Franken zudem ziemlich konstant. Es gibt zwar immer wieder Anträge, dieses zu kürzen, aber das Parlament lehnt dies zuverlässig ab. Insofern gibt es auch keinen innenpolitischen Druck. Ein Systemwechsel zeichnet sich also nicht ab.

Lässt sich also keine Vereinfachung umsetzen?

Das lässt sich so nicht sagen. Der erste Schritt zur Vereinfachung ist der Wille zum Fortschritt in der Agrarpolitik. Wenn wir diesen Willen haben, braucht es eine Problemanalyse und Lösungen. Für die Vereinfachung müssen wohl alle Akteure zu Kompromissen bereit sein und sich ausserdem auf die wesentlichen Punkte konzentrieren wollen. Hinzu kommen die bestehenden Massnahmen. Und da ist alles, was Seuchenschutz, Rückverfolgbarkeit und Lebensmittelsicherheit angeht, aus Sicht Konsumentenschutz und Handel kaum verhandelbar. Eine Möglichkeit bietet die Digitalisierung, sofern es gelingt, ein sauberes System aufzubauen, so dass Doppelaufzeichnungen vermieden werden.

«Es ist die grosse Herausforderung der Agrarpolitik, dass der Mix zwischen staatlichen und privaten Massnahmen stimmt.»

Die Agrarpolitik soll künftig zur Ernährungspolitik werden. Was bedeutet das konkret?

Bis jetzt kümmert sich die Agrarpolitik um einen Rahmen für die Landwirtschaft. Wir haben in den letzten 20 Jahren gemerkt, dass der Rahmen für die Landwirtschaft die Konsumenten und Konsumentinnen aussen vorlässt. Mit einer Ernährungspolitik will man konzeptionell die Land- und Ernährungswirtschaft abbilden, um Massnahmen zu definieren, die nicht nur die Landwirtschaft betreffen, sondern auch den Gross- und Detailhandel, Verarbeitung, Industrie sowie die Konsumenten und Konsumentinnen. Das alles unter dem Aspekt der gesunden Ernährung aus nachhaltiger Produktion.

Macht das nicht alles noch komplexer?

Aus Sicht des Bundes könnte für einen Bereich festgelegt werden, dass die Marktakteure die Regeln unter sich ausmachen und es keine staatlichen Gelder mehr benötigt oder dass Zahlungen mit einer Zielvereinbarung gekoppelt erfolgen können. Ein Beispiel, wo dieser Spielraum möglicherweise vorhanden wäre, könnte der Tierwohlbereich sein. Dort sind die Konsumenten bereit, für Tierwohl-Leistungen einen Bonus zu bezahlen. Man könnte sich drauf einigen, dass das Tierwohl vom Markt bezahlt wird. Das so nicht verwendete Geld könnte dann für Bereiche genutzt werden, wo es keinen Markt gibt, z.B. für die Reduktion von Stickstoffemissionen. Das wäre ein sehr effektives Zusammenspiel von privaten und staatlichen Akteuren. Aber es ist die grosse Herausforderung der Agrarpolitik, dass der Mix zwischen staatlichen und privaten Massnahmen stimmt und diese sauber aufeinander abgestimmt sind. Das ist die grosse Kunst und auch der Grund dafür, weshalb die Diskussion so heftig geführt wird. Und um Ihre Frage noch zu beantworten: aus Sicht Landwirtschaft ist wahrscheinlich nur wenig an Vereinfachung zu gewinnen.

Dass es eine Ernährungspolitik geben soll, sind sich viele einig. Aber wenn es um die Details geht, sieht es anders aus. Schon nur zwischen den verschiedenen Bundesämtern.

Im Bericht zur Weiterentwicklung der Agrarpolitik im Zusammenhang mit der Sistierung der Agrarpolitik 22 ist es auf einen Satz kondensiert: Es geht um eine gesunde Ernährung aus nachhaltiger Produktion. Diesen Grundsatz tragen alle mit. Aber dann stellt sich die Frage, ob man bei den Konsumentinnen oder bei der Ladengestaltung eingreifen soll? Wie gehen wir damit um, dass wir tendenziell zu viel Zucker essen, obwohl wir wissen, dass dies nicht gesund ist? Hier eine Linie zu ziehen ist sehr schwierig. Ich würde mir wünschen, dass der Detailhandel von sich aus sagt: Wir testen alles, was bezüglich Ladengestaltung möglich ist, damit sich unsere Kundinnen und Kunden gesund ernähren. Und ich würde mir wünschen, dass die Landwirtschaft einen entspannten Umgang mit den Ernährungsempfehlungen hat, statt sich gleich wieder in einem Abwehrkampf zu verbeissen. Wir alle könnten mehr Experimente zulassen und mehr Möglichkeiten nutzen, um die Konsumenten zu unterstützen, sich nachhaltiger und gesünder zu ernähren.

«Die Welt ist nicht bereit für die nächste grosse Integrationsbewegung, die sich um Klimawandel, demographische Veränderungen oder Gesundheit kümmert.»

Sie haben angemerkt, dass aktuell der aussenpolitische Druck auf die Schweizer Agrarpolitik klein sei. Sehen Sie in nächster Zeit überhaupt internationalen Druck oder Abkommen, welche die Schweizer Agrarpolitik stark beeinflussen werden?

Politisch sehen wir aktuell in den USA, aber auch in Deutschland, Frankreich und im Osten der EU vermehrt Bewegung in Richtung Nationalismus. Es ist schwierig einzuschätzen, was das für multilaterale und plurilaterale Handelsbeziehungen und Abkommen bedeutet. Fest steht nur: die Grundidee, dass die Staaten dieser Welt Handels- und andere Fragen gemeinsam lösen, steht stark unter Druck. Die Welt ist nicht bereit für die nächste grosse Integrationsbewegung, die sich um Klimawandel, demographische Veränderungen oder Gesundheit kümmert. Das ist für diese Probleme ein unbefriedigender Zwischenstand.

Was sehen Sie als die grössten Herausforderungen, welchen die Schweizer Agrarpolitik in den kommenden Jahren gegenübersteht?

Eine der grössten Herausforderungen ist der Klimawandel. Das betrifft sämtliche Produktionszweige, allerdings in unterschiedlichem Ausmass. Aber alle werden sich überlegen müssen, was zu tun ist, wenn sich das Klima verändert. Der zweite grosse Bruch ist die Demografie. Wir haben – übrigens weltweit – das Problem, dass die Nachfolgerinnen und Nachfolger für die Betriebe und die ganze Wirtschaft fehlen.  In den nächsten Jahren werden viele Menschen aus der Babyboomer-Generation in Pension gehen. Das trifft die Landwirtschaft genauso wie die ganze Wertschöpfungskette. Es wird schwierig, die Lücke zu schliessen. Das dritte ist das Thema Gesundheit: Wie schaffen wir es, dass die Bevölkerung gesund ist und gesund bleibt? Hier spielt die Ernährung eine entscheidende Rolle. Aktuell ist die Menschheit gesundheitlich in einem eher schlechten Zustand. Von 8 Milliarden Menschen sind ungefähr 2 Milliarden gesund ernährt. 1 Milliarde hat viel zu wenig, 2 Milliarden haben zu wenig und die übrigen 3 Milliarden haben zu viel. Letzteres wird oft in den Bereich der Eigenverantwortung geschoben. Aber mit Blick auf die Gesundheitskosten sollte das überdacht werden. Kurz: es gibt also genug zu tun.