Wie vereinfachen andere Staaten ihre Agrarpolitik?

Die Schweiz bereitet sich auf die Agrarpolitik nach 2030 vor. Einfacher soll sie werden. Wie gehen andere Staaten mit den Herausforderungen ihrer künftigen Agrarpolitiken um? Die Hochschule HAFL warf an ihrem Agrarpolitik-Forum einen Blick ins Ausland.
Zuletzt aktualisiert am 5. September 2024
von Jonas Ingold
5 Minuten Lesedauer
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Die EU-Staaten erhalten mehr Eigenständigkeit: Rindvieh-Haltung in Holland. (jin)

Die Komplexität der EU-Agrarpolitik

Die EU-Agrarpolitik ist ein komplexes Gefüge, da die Interessen von 27 Mitgliedstaaten integriert werden müssen. Michael Niejahr, stellvertretender Generaldirektor für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung der Europäischen Kommission, erklärt: «Vereinfachung hat in der EU-Agrarpolitik einen sehr hohen Stellenwert.» Die politischen Vorstellungen darüber, wie eine einfachere Politik erreicht werden kann, seien jedoch sehr unterschiedlich. «Aber alle sind sich einig, dass sie aktuell viel zu komplex ist», so Michael Niejahr.

Vergleich mit der Schweizer Agrarpolitik

Michael Niejahr betont, dass die Herausforderungen, Ziele und Instrumente der Schweizer und der EU-Agrarpolitik ähnlich seien, sei es bei den Direktzahlungen oder beim Umweltschutz. Die Fragen, die in Brüssel diskutiert werden, seien auch für die Schweiz relevant. «Zuerst müssen wir uns fragen, für wen wir eine Vereinfachung wollen – für die betroffenen Landwirte oder für die Behörden?», so Michael Niejahr. Er kritisiert, dass die Verantwortlichen viel zu selten den Kontakt zu den Landwirtinnen und Landwirten suchen: «Meist interessiert man sich vor allem für die eigenen Bereiche.»

Umsetzung der Agrarpolitik in den Mitgliedstaaten

In der EU wird die Agrarpolitik von Brüssel gestaltet, aber die Umsetzung liegt bei den Mitgliedstaaten. In föderalen Staaten wie Deutschland sind die Bundesländer oder Regionen dafür zuständig. «Durch sukzessive Erweiterungen haben wir immer diversere Agrarsysteme in unsere Politik eingebaut», erklärt Michael Niejahr. Dies sei nötig geworden, da die Landwirtschaft in den EU-Ländern sehr unterschiedlich sei: «Während sizilianische Bauern die Trockenheit beklagen, haben die finnischen während zehn Monaten Schnee auf ihren Feldern», erklärt er. Einen gemeinsamen Nenner zu finden, sei eine grosse Herausforderung.

Nicht-landwirtschaftliche Ziele in der Agrarpolitik

Ausserdem drängen immer mehr nicht-landwirtschaftliche Ziele in die Agrarpolitik. «Wenn es darum geht, Märkte zu schaffen und die Ernährungssicherheit herzustellen, sind wir monokausal unterwegs – aber sobald es um die Förderung ländlicher Räume, den Umweltschutz oder soziale Komponenten geht, wird es sofort komplexer», so Michael Niejahr.

Entkoppelung der Direktzahlungen

Ein wichtiger Schritt zur Vereinfachung war die Entkoppelung der Direktzahlungen von der Produktion: Geld für den Hektar, statt für das einzelne Tier. «Konzeptionell ist das simpel und müsste doch einen grossen Schub an Vereinfachungen bringen?», fragt Michael Niejahr, ergänzt aber: «Das dachten wir auch, aber es gelang nicht zu 100 Prozent.»

Die Gründe dafür sieht Michael Niejahr im politischen Diskurs, der das System als «Giesskannenpolitik» kritisiert. «Der kleine Landwirt im Berggebiet braucht doch mehr Gelder als der grosse im Flachland», erklärt er. Zudem müssten sieben Millionen Landwirtinnen und Landwirte kontrolliert werden, was komplexe IT-Systeme erfordere. Auch die Frage, was ein förderungswürdiger Hektar sei, bringe Probleme. «Wann wird aus einem Agrarhektar mit Bäumen auf einmal Wald, wann verliert er die Förderungsfähigkeit?», so Michael Niejahr. Das führte zu zahlreichen Richtlinien und einer komplexen Umsetzung.

Was braucht es in der EU, um Direktzahlungen zu erhalten?

Die Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP) setzt die Einhaltung von neun Standards für den guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand von Flächen (GLÖZ) voraus, damit Betriebe GAP-Mittel erhalten. Dazu gehören Standards wie Fruchtfolge und Förderung der Biodiversität. Weiter müssen die Grundanforderungen an die Betriebsführung (GAB) erfüllt werden, um direktzahlungsberechtigt zu sein.

Das neue Umsetzungsmodell

Seit 2005 arbeitet die EU mit diesem System, wobei Detailvorschriften nach und nach geändert wurden. «Es kamen immer mehr Mitgliedstaaten mit Anliegen und es gab immer mehr Ausnahmeregelungen – damit stieg die Komplexität weiter», erklärt Michael Niejahr. Die EU-Kommission kam zu dem Schluss, dass «One size fits all» das Problem sei. Ein neues Umsetzungsmodell wurde entwickelt, bei dem die EU künftig die Ziele vorgibt und die Mitgliedstaaten die Ergebnisse beurteilen. Es gibt nun 28 Strategiepläne, einen pro Staat, ausser in Belgien, wo Flandern und Wallonien keine Einigung fanden. «Das endgültige Ergebnis steht noch aus, wir sind erst im zweiten Jahr des neuen Umsetzungssystems», so Michael Niejahr. Grundsätzlich seien alle zufrieden, da die Staaten näher an den Betrieben seien als die EU-Behörden.

Herausforderungen der Baselines

Nicht alles wird jedoch von den Mitgliedstaaten ausgestaltet. Die Baselines, die jeder Hof erfüllen muss, um Direktzahlungen zu erhalten, wurden nicht in das neue Umsetzungsmodell überführt. Diese Baselines sind vergleichbar mit dem ökologischen Leistungsnachweis in der Schweiz. Dann sei passiert, was zu erwarten war, erklärt Michael Niejahr: «Es passt nicht zwischen den Finnen und den Zyprioten – während die einen die Baselines nicht einhalten können, weil es zu trocken ist, geht es bei den anderen nicht, weil alles wochenlang überflutet ist.»

Proteste und Vereinfachungspaket

In diesem Frühjahr gingen zahlreiche Bäuerinnen und Bauern in der EU auf die Strasse, um gegen immer strengere Regeln zu protestieren. Daraufhin wurde rasch ein Vereinfachungspaket bei den Umweltstandards verabschiedet. Dass kurz darauf EU-Wahlen anstanden, dürfte die Angelegenheit beschleunigt haben. Michael Niejahr hält diese Vereinfachungen für nützlich: «Das hat was gebracht, denn die Landwirte sind jetzt wieder auf dem Feld und nicht in Brüssel auf der Strasse.»

Video: Etienne Arrivé, Agir/HAFL

Subventionsstopp in Neuseeland

In Neuseeland ist alles anders. 1984 wurden die Subventionen für die Landwirtschaft eingestellt und die Farmer dem Weltmarkt ausgesetzt. «Die Subventionen hatten für Überproduktion und Marktstörungen gesorgt», sagt Oliver Hendrickson, Berater für landwirtschaftliche Fragen bei der permanenten Vertretung Neuseelands bei der EU.

Überproduktion und Marktverzerrungen

Viel unproduktives Land wurde bewirtschaftet, nur um Subventionen zu erhalten. Im Jahr 1983 mussten wegen Überproduktion 6000 Tonnen Schaffleisch zu Dünger verarbeitet werden, weil es keine Abnehmer gab. «Und der landwirtschaftliche Produktionswert lag tiefer als die Produktions- und Verarbeitungskosten», erklärt Oliver Hendrickson.

Die Agrarwelt Neuseelands nach den Umwälzungen

«Wie Sie sehen, ist die neuseeländische Agrarwelt dennoch nicht untergegangen», sagt Oliver Hendrickson. Aber die Umwälzungen waren massiv. Der Schafbestand sank von 70 Millionen Tieren auf 25 Millionen heute, die Lammfleischproduktion liegt aber auf ähnlichem Niveau wie damals.

Die Exporteinnahmen mit Agrarprodukten verdoppelten sich innerhalb von zwei Jahren und stiegen in den folgenden zehn Jahren weiter um 60 Prozent. «Die Notwendigkeit, die Produktivität unseres Agrar- und Ernährungssektors zu erhöhen, hat dazu beigetragen, schlechte landwirtschaftliche Praktiken zu beseitigen, den Einsatz von umweltschädlichen Betriebsmitteln zu reduzieren und die Emissionsintensität des Sektors zu senken», sagt Oliver Hendrickson.

Herausforderungen der Gegenwart

Aktuell seien die Zeiten aber auch für die neuseeländische Landwirtschaft schwierig. «Die goldenen Zeiten des Welthandels liegen hinter uns», erklärt er. Und der Klimawandel macht die Arbeit für die Farmer schwieriger. Umso wichtiger sei es, den Farmern zuzuhören und die richtigen politischen Voraussetzungen für sie zu schaffen.

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Klimawandel und politische Rahmenbedingungen

Bei den politischen Rahmenbedingungen dreht sich vieles in Neuseeland aktuell um den Klimawandel. Bei den Emissionszielen in Neuseeland steht auch die Landwirtschaft im Fokus, sie ist laut Oliver Hendrickson für 53 Prozent der Bruttoemissionen verantwortlich. Vorschläge für eine Methanemissionssteuer (in Neuseeland «fart tax» genannt), die besonders die Milchproduzenten getroffen hätte, sind im August dieses Jahres abgeschmettert worden, nachdem sie auf massiven Widerstand der Bäuerinnen und Bauern gestossen waren und eine neue Regierung das Zepter übernommen hatte.

Forschung als Lösung

Neuseeland setzt aktuell stark auf die Forschung. «Die Entwicklung von Instrumenten und Technologien zur Minderung der Emissionen soll beschleunigt werden», sagt Oliver Hendrickson. Bis 2030 soll zudem ein Preissystem auf Emissionen in der Landwirtschaft eingeführt werden. «Aber es ist entscheidend, dass die neuen Technologien zur Emissionsreduktion der Preisgestaltung vorausgehen», erklärt Oliver Hendrickson.