25 Jahre nach Lothar: Wie ein Sturm die Schweizer Wälder prägte
Der Orkan Lothar hinterliess 1999 eine Spur der Verwüstung in den Schweizer Wäldern, brachte jedoch auch erstaunliche...
Junge Triebe und Knospen von Bäumen sind neben Kräutern und Gräsern eine wichtige Nahrungsquelle für Rehe, Gämsen und Rothirsche. Starker Verbiss durch Wildhuftiere kann aber gebietsweise die natürliche Waldverjüngung beeinträchtigen und die Artenvielfalt im Wald reduzieren. Das ist besonders problematisch, da wegen des Klimawandels stabile und widerstandsfähige Mischwälder immer wichtiger werden. Andrea Kupferschmid von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL beschreibt, wie Wildhuftiere junge Bäume schädigen können: «Manchmal fressen sie sie komplett oder zertreten sie, was oft zum Absterben der Bäumchen führt», sagt sie. Zusätzlich können Rehböcke und Hirsche Schäden durch das sogenannte Fegen verursachen, indem sie ihr Geweih an den jungen Stämmen reiben. Dies führt zu Verletzungen, die Pilzinfektionen begünstigen und das Absterben des oberen Stammbereichs zur Folge haben können.
Jean-Jacques Thormann, Dozent für Gebirgswald von der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften HAFL ergänzt, dass die Intensität des Wildverbisses von der Baumart abhängt. «Weisstannen sind besonders stark betroffen und werden ohne Schutz nicht mehr ausreichend gross – da diese Bäume tief Wurzeln und für die Stabilität in steilen Lagen wichtig sind, hat der Verbiss langfristige Konsequenzen für die Schutzfunktion der Wälder», warnt Jean-Jacques Thormann. Fichten und Bergföhren bleiben hingegen häufiger verschont.
Aus ökologischer Sicht beeinflusst der Verbiss die Artenzusammensetzung des Waldes. «Bestimmte Baumarten werden bevorzugt verbissen, was langfristig zum Ausfall dieser Arten führt und damit die Biodiversität verringert», sagt Andrea Kupferschmid von der WSL. Besonders betroffen seien Eichen, die vielen Tierarten Lebensraum bieten. «Oft werden Bäume, die auch in Zukunft klimatisch angepasst sind, wie die Weisstanne, durch Wildverbiss in der Verjüngung gehemmt», ergänzt sie. Die Folge ist eine geringere Vielfalt und eine erhöhte Anfälligkeit der Wälder gegenüber Schaderregern und Trockenheit.
Christian Willisch, Wildtierbiologe an der HAFL betont, dass die Auswirkungen des Wildverbisses besonders dann problematisch erscheinen, wenn sie die Interessen der Menschen direkt betreffen. «Wenn die Schutzfunktion eines Waldes gefährdet ist, weil die Verjüngung ausbleibt oder die wirtschaftlich nutzbare Holzproduktion beeinträchtigt wird, führt das zu Konflikten», erklärt er. Die Wildhuftiere sind jedoch Teil des Waldökosystems, wie andere Arten auch. Dass sie mit ihrem Verhalten den Wald und dessen Entwicklung beeinflussen, ist insofern als natürlicher Vorgang zu verstehen. Ab wann dieser Einfluss zu gross ist, wird ausschliesslich aus menschlicher, meist sozioökonomischer Perspektive beurteilt. In Schutzwäldern ist dies der Fall, wenn wildbedingt die Schutzfunktion langfristig nicht mehr gewährleistet ist.
Die Problematik ist regional unterschiedlich ausgeprägt. «In Graubünden sind die Verbissprobleme weitaus grösser als in Teilen der Westschweiz – das hängt möglicherweise mit der Einwanderung des Hirsches zusammen, dessen Bestände sich noch weiter vergrössern werden», sagt Jean-Jacques Thormann von der HAFL.
Laut Christian Willisch beeinflussen zudem weitere Faktoren den Verbissdruck. «In monotonen Fichtenwäldern ohne alternative Nahrungsquellen verstärkt sich der Verbiss, da Wildtiere kaum eine andere Wahl haben», erklärt der Experte und ergänzt: «Oft fehlt es nämlich an strukturreichen Wäldern, die den Wildhuftieren sowohl gute Deckung als auch Nahrung bieten.» Zudem werden die Wildtiere durch menschliche Störungen vielerorts in die wenigen verbleibenden ruhigen Bereiche der Wälder abgedrängt – nicht selten in steile Schutzwälder. Dort müssen sie ausharren, bis sie im Schutz der Dunkelheit austreten können, um auf Weiden Nahrung aufzunehmen.
So unterstreicht Andrea Kupferschmid von der WSL die Bedeutung eines ganzheitlichen Ansatzes: «Neben der Reduktion der Wildbestände sind auch strukturelle Massnahmen im Wald nötig – die Schaffung von Lichtungen und Waldwiesen bieten alternative Nahrung und reduzieren die Verbissintensität.» Und auch forstliche Massnahmen wie der mechanische Schutz einzelner Bäume vor Verbiss oder Zäune, helfe die jungen Bäume zu schützen, ergänzt Christian Willisch.
Durch den Klimawandel verändert sich das Wachstumspotential vieler Baumarten, weshalb der Schutz und die Förderung der klimafitten Baumarten heute besonders wichtig sind. Andrea Kupferschmid erläutert: «Viele aktuelle Baumbestände sind überaltert und artenarm – für eine stabile Zukunft muss eine vielfältige Verjüngung nachwachsen.» Aktuell geht die Forschung davon aus, dass einige Baumarten in tieferen Lagen langfristig nicht überleben könnten. Neue, standortgerechte Arten seien jedoch vielerorts noch nicht etabliert. In Verbindung mit Verbissproblemen könne dies die Anpassung an den Klimawandel erschweren. Zudem könnten sich Wildhuftiere aufgrund der Hitze stärker in bewaldete, kühlere Gebiete zurückziehen und so den Verbissdruck in tieferen Lagen verstärken.
Die Regulierung der Wildbestände durch Jagd wird von Fachleuten unterschiedlich bewertet. Während Andrea Kupferschmid betont, dass eine Reduktion der Wildpopulation die Belastung der Bäume senken würde, warnt Christian Willisch vor pauschalen Aussagen: «Es spielen viele Faktoren eine Rolle – die Waldstruktur, alternative Nahrungsangebote, die räumliche Verteilung der Tiere und damit auch menschliche Störungen», erklärt er. Eine regionale und zielorientierte Bejagung sei dabei ein wichtiger Teil.
Die Rolle von Grossraubtieren wie Luchs und Wolf wird ebenfalls untersucht. Erste Studien zeigen, dass in Gebieten, in denen diese Raubtiere vorkommen, die Verbissintensität punktuell sinken kann. Andrea Kupferschmid betont jedoch, dass der menschliche Einfluss auf die Wildtierpopulation deutlich grösser sei als der durch Grossraubtiere.
Die Zusammenarbeit zwischen Forstwirtschaft, Jagd, Naturschutz, Landwirtschaft und Politik ist für eine nachhaltige Waldentwicklung entscheidend – darin sind sich die Fachleute einig. «Die Abstimmung der unterschiedlichen Interessen ist ein zentraler Schritt», fasst Jean-Jacques Thormann von der HAFL zusammen und ergänzt: «Es sollte nicht um ein Gegeneinander von Wald und Wild gehen, sondern um ein Miteinander.» Andrea Kupferschmid von der WSL betont, dass das übergeordnete Ziel ein artenreicher, gesunder Mischwald sei, der nicht nur für Wildtiere einen Lebensraum bietet, sondern auch den vielfältigen Ansprüchen der Gesellschaft gerecht wird.
Der Erhalt und die nachhaltige Nutzung unserer Wälder sind somit eine komplexe Aufgabe, die auf einen verantwortungsvollen und langfristigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen angewiesen ist.
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