Die Schweiz investiert in den Kaukasus von Morgen

Das duale Berufsbildungssystem gilt weltweit als Erfolgsmodell und wird in Georgien und Armenien als Chance zum Aufbau einer zukunftsfähigen Landwirtschaft gesehen. Agronom Robert Lehmann arbeitet seit 8 Jahren in Ausbildungsprojekten im Kaukasus und stellt fest: «Das Potenzial zu Verbesserungen nach Jahren der Planwirtschaft ist gross.»
Zuletzt aktualisiert am 1. Dezember 2023
von Markus Rediger
5 Minuten Lesedauer
Robert Lehmann Mre

Über Robert Lehmann

…von der Ausbildung her Agronom mit Berufserfahrung auf allen Stufen der Berufsbildung, war von 2011-2021 an der HAFL in Zollikofen verantwortlich für die Zusatzausbildung Berufsschullehrperson (Minor Unterricht und Beratung). In dieser Funktion wurde er als Experte zum Aufbau eines Ausbildungsgangs für Lehr- und Beratungspersonen in Georgien beigezogen. Daraus ergaben sich immer wieder neue Mandate in verschiedenen Projekten der Berufsbildung und zu landwirtschaftlichen Fragen in Georgien und seit 2016 auch in Armenien.

LID: Welche Bedeutung haben die Landwirtschafts- und Berufsbildungsprojekte der Schweiz für Georgien und Armenien?

Robert Lehmann: Das duale Berufsbildungssystem, wie es eigentlich nur in der Schweiz, Deutschland und Österreich umgesetzt wird, gilt heute weltweit als Erfolgsmodell und wird gerade auch in postsowjetischen Ländern wie Georgien und Armenien als Chance zum Aufbau einer nachkommunistischen, freiheitlichen Wirtschaft gesehen. Die grosse Bedeutung der Landwirtschaft in diesen Ländern hat dazu geführt, dass man ganz besonders auch die Expertise aus der landwirtschaftlichen Bildung der Schweiz suchte und in den letzten Jahren für vieles zum Vorbild genommen hat. Die natürlichen Voraussetzungen für die Landwirtschaft sind zudem in sehr vielem mit der Schweiz vergleichbar. Es gibt auch dort wärmere Talgebiete, welche sich für Acker- Obst- und Weinbau eignen, dazu aber vor allem auch viele Berg- und Hügelregionen, die nur mit Beweidung und Alpung genutzt werden können. Das Potenzial zu Verbesserungen nach Jahren der Planwirtschaft ist immer noch gross und hier kann die Schweiz sowohl im Aufbau einer nachhaltigen Produktion und von absatzorientierten Wertschöpfungsketten wie auch in Fragen der Strukturen und Organisation viel Expertise einbringen.

Welches sind aus Ihrer Sicht die grössten Herausforderungen für die Projekte der Schweiz?

Robert Lehmann: Die Erfahrungen und die Expertise aus der Schweiz stossen immer auf grosses Interesse. 1:1 lässt sich aber selten etwas kopieren. Für eine nachhaltige Wirkung braucht es auf beiden Seiten Leute, die die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Schweiz und des postsowjetischen Kaukasus erkennen und in die Projektarbeit einbeziehen. Als grosse Herausforderung erlebe ich die im Sowjetsystem erworbene Arbeitsmentalität, welche mir ein georgischer Kollege wie folgt beschrieben hat: «Bei uns gab es Chefs und Idioten. Als Chef musst du befehlen, ob du von der Sache etwas verstehst oder nicht. Als Arbeiter machst du, was der Chef sagt und denkst besser selbst nichts dazu (weil kritische Fragen ja nicht gewünscht sind)». Mit diesem Bild vor Augen hat der Beruf Landwirt als Arbeiter (Idiot) im Grossbetrieb unter jungen Leuten verständlicherweise kein hohes Image. Ich kenne viele, die diese Mentalität überwunden haben, selbst mitdenken und sehr initiativ sind. Es gibt aber auch Leute, die noch stark vom alten System geprägt sind. Wenn man dann mit initiativen, oft wirklich enthusiastischen Leuten zusammen Projekte plant und in Gang setzt und diese dann durch sowjetgeprägte Kollegen und Mitarbeitende wieder gebremst werden, kann es frustrierend sein. Mit entsprechenden Ansätzen in der Projektumsetzung kann man dem aber erfolgreich entgegenwirken.

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Die «Swiss Agricultural School Caucasus» in Sarkineti wurde nach dem Vorbild des Plantahofs ins Leben gerufen. Miho Simonishvili der ehemalige Landwirtschaftsminister Georgiens, der auch in Zürich studierte, war dir treibende Kraft dahinter. (mre)
«Die Expertise aus der Schweiz stösst immer auf grosses Interesse. 1:1 lässt sich aber selten etwas kopieren.»

Schweizer Käser im Kaukasus: Einst und heute

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert sind mehrere Käser mit ihren Familien in den Südkaukasus ausgewandert. Inserate in Schweizer Zeitungen zeigen, dass sie von russischen Gutsbesitzern und deutschen Einwanderern aktiv angeworben wurden und angesichts der Armut in der Schweiz auch eine wirtschaftliche Existenz in Georgien suchten. Belege aus dieser Zeit zeigen, wie Geld aus Georgien an die armen Verwandten in die Schweiz überwiesen wurde. Noch vor dem zweiten Weltkrieg mussten die Nachkommen dieser Einwanderer auf Anordnung von Stalin das Land wieder verlassen. Die einheimische Bevölkerung produziert in erster Linie verschiedene Formen von Frisch- und Weichkäse, der durch hohen Salzgehalt oder Räucherung haltbar gemacht wird. Seit einigen Jahren gibt es wieder Bemühungen, Halbhart- und Hartkäse nach Schweizer Art herzustellen. Die Käserei an der Swiss Agricultural School Caucasus SASC übernimmt hier eine Pionierfunktion.

«Es gibt noch viele Leute, die stark vom alten Sowjet-System geprägt sind.»

Sie blicken bereits auf über 8 Jahre Engagement im Kaukasus zurück, welche Bilanz ziehen sie?

Robert Lehmann: Ich bin beeindruckt, was Projekte, an denen ich oft auch nur am Rande beteiligt war, schon alles ausgelöst haben. In der Berufsbildung wurde zum Beispiel in Georgien ausgehend vom schweizerischen Modell der OdA Agrialiform eine mit vergleichbaren Verantwortlichkeiten ausgestattete analoge Organisation für die landwirtschaftlichen Berufe (Agroduo) ins Leben gerufen und darauf aufbauend eine Dachorganisation (Skills Agency) gegründet, in welcher bereits ein Grossteil der Wirtschaftsbranchen vertreten sind und so den Aufbau einer dualen Berufsbildung mitgestalten. Ein anderes Beispiel ist der georgische Bauernverband, eine junge Organisation, die ebenfalls die schweizerischen Erfahrungen einbezieht, Projekte wie Agrotourismus lanciert und zunehmend auch den kleineren Landwirtschaftsbetrieben eine politische Stimme gibt. In Armenien steht gerade ein neues Berufsbildungsgesetz vor der Einführung, welches eine Transformation hin zu einer dualen Lehre forcieren will und zu grossen Teilen auf Erfahrungen aus einem Projekt von HEKS beruht. Am wichtigsten ist mir aber meine Beobachtung, dass es in den verschiedensten Tätigkeitsgebieten zunehmend Leute gibt, die das eigene Schicksal und die Entwicklung in ihren Ländern selbst in die Hand nehmen. Es sind immer weniger die «Entwicklungshelfer», die zusammen mit einigen wenigen lokalen Partnern Projekte in Gang geben. Georgische und armenische Fachleute und Unternehmer suchen Expertise und allenfalls finanzielle Unterstützung für Vorhaben, die ihre Situation und ihr Land voranbringen sollen. Die Zusammenarbeit und der Austausch auf Augenhöhe können für alle sehr bereichernd sein.

Miho Simonishvili der ehemalige Landwirtschaftsminister Georgiens, der auch in Zürich studierte, hat eine «Swiss Agricultural School Caucasus» in Sarkineti nach dem Vorbild des Plantahof, Landquart ins Leben gerufen. Welche Impulse gehen davon aus?

Robert Lehmann: Miho Simonishvili ist vor allem auch ein erfolgreicher Unternehmer im Bereich Lebensmittelverarbeitung. Dieser Unternehmergeist ist aus meiner Sicht etwas vom Wesentlichsten, das die Schule und dann auch die Absolventen für ihren Berufsweg prägt. Die duale Berufsbildung ist in Georgien erst in den Anfängen. An der SASC kann nun in einem vorbildlichen Landwirtschaftsbetrieb und in einer Käserei auch praktisch gelernt werden. Die Unterstützung durch Kollegen des Plantahofs und die Lehrmittel der schweizerischen Edition-lmz bringen viel neues und relevantes Wissen und moderne Unterrichtsmethoden an die Schule. Bereits machen auch Lehrpersonen anderer Berufsschulen und Berater vom Angebot Gebrauch. Ich bin überzeugt, dass die Schule mit ihrer Ausstrahlung viel zu einem verbesserten Image des Berufs Landwirt in Georgien beitragen wird und mit ihrem Landwirtschaftsbetrieb mit Käserei auch Impulse zu einer besseren Nutzung der Bergregionen setzen kann.

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Grosse Infrastrukturprojekte, wie ein Strassentunnel und Brücken an der georgischen Heerstrasse in Richtung Russland wird von chinesischen Unternehmen realisiert. Zu welchem Preis? (mre)
«Das Potenzial zu Verbesserungen nach Jahren der Planwirtschaft ist immer noch gross.»

Inwiefern beeinflusst die politisch labile Lage die Arbeit?

Robert Lehmann: Aktuell ist vor allem die Vertreibung von über 100’000 Armeniern aus Berg-Karabach ins kleine Mutterland Armenien eine grosse Herausforderung. Kurzfristig ist hier Nothilfe gefragt. Partnerschulen in unserem Berufsbildungsprojekt sind daran, zusätzliche Klassen anzubieten und geflüchtete Lehrpersonen zu integrieren. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie man mit solchen Krisen umzugehen weiss. Ein armenischer Bekannter hat mir dazu geschrieben: «Es ist schwierig, hart, tragisch und problematisch zugleich. ... Es wird Anstrengungen brauchen, um das zu ändern. Wenn wir zurückblicken, dann ist das eine Geschichte von 4.000 Jahren, ein Auf und Ab, und die Menschen und das Land haben Tausende von Jahren überlebt, also ist die Antwort, sich wieder an die Arbeit zu machen, und es wird klappen. Bildung und Arbeit sind das, was die Länder gedeihen lässt. Ich bin überzeugt, dass wir es gemeinsam schaffen werden.» Es ist aber oft schwierig, etwas wirklich längerfristig zu planen. Die Leute leben in der Erfahrung ständiger Veränderungen. Über grosse Ziele kann man sich einigen, wenn man dann aber bei konkreten Massnahmen einen Zeithorizont von 5 oder mehr Jahren in die Überlegungen einbeziehen will und mit solchen Überlegungen vielleicht eine kurzfristige Investition in Frage stellt, wird das oft nicht verstanden.

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Die Leute leben in der Erfahrung ständiger Veränderungen im Kaukasus. Sprayerei in Tiflis, Georgien. (mre)

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