Wie Müller-Thurgau nach Deutschland kam und dort zum Hype im Weinbau wurde

Die Bodenseeregion ist Weinland und die Weissweinsorte Müller-Thurgau setzt ihr die Krone auf. Von hier aus trat die frühreife, aromatische Rebsorte ihren Weg zu bacchantischer Weltbedeutung an.
Zuletzt aktualisiert am 17. Dezember 2024
von Harry Rosenbaum
8 Minuten Lesedauer
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Die Rebsorte Müller-Thurgau stammt aus der Bodenseeregion. (Rosenzweig / Wikimedia Commons)

Die Sonderausstellung «Bacchus & Co. – Wein am Bodensee» im Museum für Archäologie Thurgau erzählt aus archäologischer Sicht die Geschichte des Traubensaftes vom Schwäbischen Meer, den es in verschiedenen Sorten gibt. Sie zeigt den Aufstieg der Rebsorte Müller-Thurgau zur internationalen Berühmtheit, beleuchtet jahrtausendealte Weintraditionen und stellt die Herausforderungen des modernen Weinbaus dar – ein Highlight für Weinliebhaber und Geschichtsinteressierte gleichermassen.

Die Ausstellung macht den Auftakt zum Themenjahr 2025 «Wein am Bodensee», das in der Dreiländerregion im nächsten Frühjahr beginnt und von Dominik Gügel, dem Direktor des Napoleonmuseums Arenberg im Kanton Thurgau angeregt worden ist. Auf Schloss Arenenberg wuchs Napoleon III, der Franzosen-Kaiser von 1852 bis 1870, auf. Zu dem Anwesen gehört auch ein historisches Weingut. Eine Rebbau-Ordnung ist bis ins 15. Jahrhundert nachweisbar. Laut dem Weingut prägte Napoleons Mutter, Hortense de Beauharnais, ab 1817 als neue Schlossbesitzerin die Entwicklung der Rebanlagen und der hofeigenen Kelterei. Heute gedeihen die Reben auf 3 Hektaren an einer der schönsten Lagen am Untersee und werden seit 2020 nach den Richtlinien der Bio Suisse bewirtschaftet, so das Weingut.

Die Römer betrieben schon systematisch Weinbau in der Bodenseeregion

Urs Leuzinger, Archäologe und Leiter Ausstellungen beim Thurgauer Amt für Archäologie, erinnerte an der Vernissage zur Ausstellung daran, dass vor 100 Jahren Setzlinge der Rebsorte Müller-Thurgau über den Bodensee geschmuggelt worden sind. Dieses legendäre Ereignis sei der eigentliche Auslöser der Sonderausstellung «Bacchus & Co. – Wein am Bodensee», sagte er. Die Ausstellung dauert vom 15. Dezember 2024 bis zum 11. Mai 2025. Sie führt 2800 Jahre zurück – bis in die Eisenzeit. Damals wurden am Bodensee bereits Weinreben angebaut. Durch eine Reihe von Funden ist dies belegbar. Mit der Ankunft der Römer ist dann die Weinproduktion gewissermassen zum agrarwirtschaftlichen Renner in der Bodenseeregion geworden.

Der Grafiker und Ausstellungsmacher Rico Pengler hat die Ausstellung übersichtlich realisiert. Sie ist die erste einer ganzen Reihe von Ausstellungen zum Müller-Thurgau-Schmuggel und zum Wein aus der Region. Die illegale Einführung der Rebe vom Arenenberg nach Deutschland sorgte letztlich dafür, dass die Sorte Müller-Thurgau zum Hype im Weinbau im nördlichen Nachbarland der Schweiz geworden ist.

Die Geschichte des Weins umfasst Jahrtausende

Viele erwachsene Besucherinnen und Besucher der Ausstellung werden nach dem Rundgang ihren Wein bestimmt aufgeklärter trinken als zuvor. Ein in der Römerstadt Augusta Raurica ausgegrabenes Relief eines Weinschiffes erweitert die Weinroute vom Bodensee in die basellandschaftliche Rheinregion. Ebenfalls von dort stammt die bekannte Bacchus-Statuette, die zusammen mit derjenigen aus der Hauptstadt der Helvetier, Aventicum, erstmals im Thurgau gezeigt wird. Möglich, dass vor 2000 Jahren Wein aus der Provinz Raetien auf Schiffen vom Bodensee über den Rhein bis nach Augusta Raurica transportiert worden ist.

Ebenfalls in der Ausstellung erfährt man, dass die Geschichte des Weins mehrere Jahrtausende umfasst. Zur Familie der Weinrebengewächse (Vitaceae) zählen insgesamt zwölf Gattungen. Von diesen spielt nur die Art Vitis vinifera eine Rolle im heutigen Weinanbau. Insgesamt existieren mehr als 16’000 Rebsorten, wovon etwa 1’000 Sorten offiziell für den Weinbau genehmigt wurden. Die Wilde Weinrebe Vitis vinifera subsp. sylvestris gilt als die Urform der heutigen Kulturart «Edle Weinrebe». Die Weinrebe wurde bereits um 3500 vor Christus von den Ägyptern, aber auch von den Babyloniern und Indern kultiviert. Die Griechen und Römer betrieben ebenfalls systematisch Weinbau. Letztere brachten die Rebe auf ihren Eroberungszügen in das Gebiet des heutigen Thurgaus.

Mit den Römern verbreitete sich der Handel, Anbau und Konsum von Wein nördlich der Alpen rasant. Archäologische Funde von Amphoren, Fässern und Trinkgeschirr zeugen vom Weingenuss. Allerdings wurde «vinum» von den Römerinnen und Römern mit Wasser und allerlei Gewürzen verdünnt und vermischt. Es galt nämlich als barbarisch, reinen Wein in grossen Mengen zu trinken. Radiokarbondatierte Weinstickel, Befunde von Keltereien sowie Pollenanalysen bezeugen den Rebbau in den Provinzen Obergermanien und Raetien ab dem 2. Jahrhundert nach Christus. Wein wurde aber auch weiterhin in grossen Mengen aus dem Mittelmeerraum importiert.

Die Schmugglerfahrt

Ein süffiger Krimi aus dem Wein-Milieu spielt sich in einer Nebelnacht im April 1925 ab. Anton Röhrenbach, der Sohn des Winzers Johann Baptist Röhrenbach und der Fischer Gottfried Ainser schmuggeln – getarnt unter Fischernetzen – 400 Pfropfreben der Sorte Müller-Thurgau vom Arenenberg nach Hanau in Baden-Württemberg. Die gefährliche Fahrt im Ruderboot von Hanau nach Ermatingen und wieder zurück nach Hanau, wo die Setzlinge heimlich entladen und ins Schlossgut Kirchhof geschafft werden, dauert acht Stunden.

Die Pfropfreben stammten von einer Versuchsparzelle auf dem Arenenberg, wo im Auftrag von Dr. Dr. h.c. Professor Hermann Müller, damals Direktor der Versuchsanstalt für Obst-, Wein und Gartenbau in Wädenswil, diese Sorte angebaut wurde. Mit dieser neuen, früh reifenden Rebe sollte die Misere des Weinbaus am Nordufer des Bodensees behoben werden. Der Anbau auf markgräflichen Rebflächen war allerdings behördlich verboten. Vater Röhrenbach, Verwalter der Rebflächen, musste die eingeschmuggelten Pflanzen im Geheimen anbauen. Erst 1949 wurde offiziell erlaubt, Müller-Thurgau auf marktgräflichem Boden anzupflanzen. Dank Müller-Thurgau blühte der Weinbau in Süddeutschland wieder auf und heute ist diese Rebsorte in ganz Deutschland mit einer Anbaufläche von 12’736 Hektaren eine der häufigsten Weissweinzüchtungen.

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Müller-Thurgau – eine «Fake-Rebe» schreibt Weingeschichte

Einige Jahrzehnte figurierte die säurearme und fruchtige Weissweinsorte Müller-Thurgau in der Fachwelt als gelungene Kreuzung zwischen Riesling und Silvaner. Das war ein Fake, denn 1998 stellte sich nämlich bei gentechnischen Untersuchungen heraus, dass die Rebsorte Müller-Thurgau mit dem ursprünglichen Namen «Rivaner» keine Kreuzung zwischen Riesling und Silvaner, sondern zwischen Riesling und Madeleine Royale ist. Dieses Ergebnis wurde bei nochmaligen Abklärungen im Jahr 2000 bestätigt.

An der falschen Zuweisung der Elternreben war ihr Züchter, der im thurgauischen Tägerwilen geborene Hermann Müller (1850–1927) nicht ganz unschuldig. Er ging davon aus, dass er 1882 Riesling mit Silvaner für seine neue Rebsorte zusammengebracht hatte. Genau wusste er es aber nicht mehr.

Hermann Müller absolvierte ein naturwissenschaftliches Studium in Zürich und Neuenburg, wo er als Botaniker, Biologe und Phytopathologe promovierte. Von 1876 bis 1890 war er Leiter der Pflanzenphysiologischen Versuchsstation im deutschen Geisenheim. Schliesslich wurde er 1891 nach Wädenswil berufen. Hier gründete und leitete er die Versuchsstation und Schule für Obst-, Wein- und Gartenbau, die später zur Forschungsanstalt Wädenswil wurde (heute Agroscope). Hermann Müller hatte seiner neuen Züchtung, die er in Geisenheim betrieb, zu Ehren seines Heimatkantons den Namen Müller-Thurgau verliehen. Aus Geisenheim nahm er 150 Setzlinge nach Wädenswil mit. Ein Original-Rebstock steht noch heute dort.

Auf der ganzen Welt zu finden

«Vinum», das Schweizer Magazin für Weinkultur, schreibt über Müller-Thurgau: «Die Weine werden zumeist trocken ausgebaut und entwickeln sich sehr rasch, deshalb sollten sie eher jung getrunken werden.» Und weiter: «Es ist die erfolgreichste Neuzüchtung der Welt, welche ab Mitte des 20. Jahrhunderts in fast allen Weinbauländern der Erde verbreitet wurde. Die Weine sind süffig, fruchtig bis feinwürzig mit feiner Aromatik von Wiesenblumen, Muskat, Kräutern und Litschi.»

Nach einer Erhebung aus dem Jahr 2010 wird Müller-Thurgau in 16 Ländern auf einer Gesamtfläche von 22’934 Hektaren angebaut. Führend ist Deutschland mit 12’736 Hektaren. In Österreich sind es 2’807, in Ungarn 2’098, in Tschechien 1’572, in der Slowakei 1’378 und in Italien1’312 Hektaren. Zu den kleineren Produzenten gehören die Schweiz mit 493, Luxemburg mit 184, Moldawien mit 173, Japan mit 172 und Russland mit 106 Hektaren. Ferner wird Müller-Thurgau in Neuseeland mit 79 Hektaren, Kroatien mit 60, Grossbritannien mit 43, Kanada mit 7 und Frankreich mit 5 Hektaren angebaut.

Klimatische Veränderungen sorgen für Abnahme der Frühreife bei Müller-Thurgau-Reben

Zur Popularität der Weissweinsorte Müller-Thurgau sagt der Leiter des Weingutes Arenenberg, Peter Mössner: «Die Rebsorte Müller-Thurgau vereint mehrere positive Eigenschaften, die in der Weinbranche auch heute noch geschätzt werden – dies sind eine elegante und feine Fruchtaromatik, eine milde Säure, stabile Erträge, gleichbedeutend mit hoher Ertragssicherheit und eine relativ frühe Reifeperiode.» Die Bedeutung der Frühreife nehme aufgrund der klimatischen Veränderungen heute aber eher ab, sei aber bis vor 25 Jahren durchaus ein Thema in der Region gewesen.

Die Rebsorte Müller-Thurgau sei sehr anfällig für echten und falschen Mehltau sowie für Botrytis, sagt Peter Mössner. «Alle drei Pilzkrankheiten können enorme Auswirkungen auf den zu erwartenden Ertrag und die Trauben, beziehungsweise die Weinqualität haben und durch höhere Temperaturen und Trockenheit zeigt sich zunehmend auch die Anfälligkeit für die Esca-Krankheit», erläutert Peter Mössner weiter. Resistenzen seien keine bekannt.

Im Weingut Arenenberg wurde die Rebsorte schon Ende des 19. Jahrhunderts angebaut. Die heutige Anbaufläche am Arenenberg mache etwas mehr als 1 Hektare aus, was einem Drittel der Rebfläche entspreche, sagt der Leiter des Weingutes.

Müller-Thurgau oder Rivaner?

Müller-Thurgau ist in der Schweiz auch unter der Bezeichnung «Rivaner» ein Begriff. Als Elternreben wurden ursprünglich Riesling und Silvaner angenommen, aus dieser Zeit stammt auch der Name «Rivaner». Die Züchtung Riesling mal Silvaner hat sich aber als falsch erwiesen. Richtig ist: Riesling mal Madeleine Royale. Warum ist vor allem in der Schweiz der Begriff «Rivaner» trotzdem noch gängig? Peter Mössner erklärt es so: «Die Bezeichnung Rivaner ist meines Wissens eine relativ neue Erfindung, die vor allem damit zu tun hat, dass der Müller-Thurgau nicht immer den guten Ruf hatte, den er heute auf dem Markt hat.» Da hätten es einige Winzerinnen und Winzer sicherlich als passend gefunden, dem Kind einen neuen Namen zu geben. «Ich kann mir auch vorstellen, dass ausserhalb des Thurgaus eher auf die Namensgebung Riesling-Sylvaner oder Rivaner zurückgegriffen wurde, um nicht die Bezeichnung eines anderen Kantons auf dem Etikett stehen zu haben», meint der Weingutleiter. «Das sind allerdings nur Spekulationen, die keine wissenschaftliche Basis haben», sagt Peter Mössner.

Bei den Charaktereigenschaften der Weissweinsorte Müller-Thurgau gelte es ausserdem zwei Dinge zu unterscheiden, erklärt Peter Mössner abschliessend: «Sie hat agronomische und technologische Vorzüge.» Die agronomischen Vorzüge der Sorte seien ihre stabilen Erträge bei früher Reife. Aber auch weintechnologisch seien die Vorzüge klar: «Die Sorte hat eine tolle und klare Fruchtaromatik bei relativ milder Säure», erklärt Peter Mössner und ergänzt noch: «Hinzukommt, dass Müller-Thurgau Weine auch mit niedrigem Alkoholgehalt gekeltert werden können und damit voll im Trend liegen.»