Urdinkel – einst verdrängt von neuen Getreidesorten, nun wieder voll im Trend

Die Mehlverkäufe des Schweizer Getreides Urdinkel haben im Pandemiejahr 2020 gegenüber 2019 um 40 Prozent und mehr zugenommen. Schafft es Urdinkel trotz anspruchsvollem Anbau mit dem aktuellen Trend zu mehr regionalen, ökologischen und pflanzlichen Nahrungsmitteln zurück in die Top-Liga?
Zuletzt aktualisiert am 14. Mai 2021
von Renate Hodel
4 Minuten Lesedauer
Urdinkel Feld IG Dinkel

Noch Anfang des 20. Jahrhunderts betrug die Dinkelanbaufläche in der Schweiz rund 16’000 Hektaren. Mit fortschreitender Mechanisierung und dem wachsenden Anbau von Weizen geriet das Getreide in Vergessenheit. Mitte der 1990er-Jahre wurde aber der Turnaround eingeläutet und heute ist Dinkel wieder voll im Trend – die Coronaviruspandemie hat den Effekt noch verstärkt.

2020 mangelte es an Schweizer Dinkel und besonders an sogenanntem Urdinkel. Schuld waren aber nicht etwa Missernten, sondern eine deutlich gesteigerte Nachfrage und ein sich explosiv entwickelnder Absatz. Vor rund 20 Jahren sah sich der Dinkelanbau aber eher dem Ende nahe: 1993 wurde Dinkel nur noch auf rund 1’000 Hektaren im Emmental und in Randgebieten des Luzerner Hinterlands angebaut. Im März 1995 schlossen sich schliesslich rund 230 Bauern und Müller zur IG Dinkel zusammen, um den Anbau von Dinkel in der Schweiz zu retten und um ihn wieder auszubauen.

In Randgebieten überlebt

Heute zählt die IG Dinkel über 2000 Produzenten. «Dinkel überlebte die Baisse in Randgebieten des Getreideanbaus, die man unter anderem in den niederschlagsreichen Gegenden der Kantone Bern, Aargau und Luzern fand», erzählt Thomas Kurth, Geschäftsführer der IG Dinkel. Der Anbau habe sich seither auf das ganze Deutschschweizer Mittelland ausgeweitet und aktuell weite sich der Anbau auch auf extensive Getreidebetriebe in der Westschweiz aus. Gerade der Urdinkel-Anbau wachse nun schon seit Jahren stetig zwischen fünf bis zehn Prozent pro Jahr: «Für die Ernte 2021 rechnen wir mit rund 4’500 Hektaren Urdinkel und einer Gesamt-Dinkelproduktion von 6’500 Hektaren.»

Der sogenannte Schweizer Urdinkel (als eingetragene Marke stilisiert UrDinkel) steht für Dinkel aus vorgegebenem Anbau. Es sind dies die beiden Sorten Oberkulmer Rotkorn und Ostro – ausschliesslich alte und reine Schweizer Dinkelsorten, die bis heute nie mit modernen Weizensorten gekreuzt wurden. Die beiden Sorten zeichnen sich durch ausgesprochen lange Halme aus, was allerdings die Standfestigkeit beeinträchtigt. Bei der Züchtung von modernen Dinkelsorten wurden die Halme seither durch Einkreuzung mit Weizen verkürzt, was dichtere Saatbestände und höhere Erträge möglich macht. Beim Anbau von Oberkulmer Rotkorn und Ostro darf wegen der langen Halme kaum organischer oder mineralischer Dünger eingesetzt werden – die Halme würden sonst bereits vor der Blüte knicken. Entsprechend ist allerdings auch das Ertragspotential pro Fläche niedriger als bei modernen Dinkel-Weizen-Kreuzungen.

Die alten und langhalmigen Sorten Ostro und Oberkulmer Rotkorn enthalten ausserdem viel Kleberprotein, das die Teige weich und dehnbar, aber unelastisch macht. Teige aus Urdinkel neigen ausserdem zum Breitlaufen und erfordern deshalb bei der Verarbeitung Fingerspitzengefühl und spezielle Rezepte – beispielsweise mit Einsatz eines Brühstücks.

Kurze Wege vom Acker zum Konsum als DNA

Mit der Marke UrDinkel geht ein verbindliches Pflichtenheft einher, dass den Anbau, die Verarbeitung und die Deklaration regelt. «Urdinkel beinhaltet unter anderem ökologische, klimafreundliche und soziale Ansprüche, indem ausschliesslich unter den Labels IP-Suisse und Bio-Suisse-Knospe extensiv angebaut und in regionalen Röllmühlen dezentral verarbeitet wird», verdeutlicht Thomas Kurth. Ausserdem darf der Urdinkel ausschliesslich in angestammten Schweizer Anbaugebieten angebaut werden. Ein sogenanntes angestammtes Anbaugebiet darf sich maximal 40 Fahrkilometer von einer 1995 vom Bundesamt für Landwirtschaft anerkannten Referenz-Röllmühle oder einer durch die IG Dinkel zugelassene Ersatz-Röllsammelstelle befinden. So werden die Transportwege vom Feld zur Mühle verkürzt und die regionale Verarbeitung sowie die damit einhergehende Wertschöpfung in ländlichen Regionen erhalten.

Daneben wird mit der Marke UrDinkel auch die grösstmögliche Reinheit in Produkten garantiert. Weil eine hundertprozentige Reinheitsgarantie in der Wertschöpfungskette allerdings nicht umsetzbar ist, gibt es einen Toleranzwert: Fremdgetreide darf nur in Spuren von maximal 0,9 Prozent enthalten sein und der Zusatz von Weizengluten wird nicht toleriert. «Im Gegensatz dazu reicht bei einen herkömmlichen Dinkelbrot ein Dinkelanteil von über 50 Prozent aus», erklärt Thomas Kurth. Das Pflichtenheft der Marke UrDinkel gleicht dem der ursprungsgeschützten AOC-Zertifizierung, ist allerdings privatrechtlich geschützt.

Erstarkter Urdinkel

Bis vor 100 Jahren war Dinkel das Schweizer Hauptbrotgetreide. Es konnte im letzten Jahrhundert züchterisch allerdings wenig verändert und somit nicht auf düngerintensive Hocherträge getrimmt werden. «Die ursprünglichen langstrohigen Sorten müssen nach wie vor extensiv angebaut werden und sie haben dadurch ein anderes Wachstums- und Abreifeverhalten», erklärt Thomas Kurth. Auch sei die Protein- beziehungsweise Gluten-Zusammensetzung noch in einem ursprünglicheren Verhältnis und der Anteil Protein und Fett sei höher als bei herkömmlichem Weizen. Im Langzeittrend «Back to the Roots» und im aktuellen Trend zu mehr regionalen, ökologischen und pflanzlichen Nahrungsmitteln gewinne Dinkel und insbesondere Urdinkel aber seit Jahren Marktanteile: «Allerdings auf einem nach wie vor tiefen Nischenniveau», relativiert Thomas Kurth.

Gerade die aktuell stark gestiegene Nachfrage sei vor allem auch dem pandemiebedingten Lockdown zuzuschreiben. Die Mehlverkäufe im Detailhandel hätten 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent und mehr zugenommen. Wohl, weil man mehr Zeit hatte, selber zu backen, mutmasst Thomas Kurth: «Wir hoffen aber natürlich, dass diese Freude am Backen anhält.»

Grosses Ausbaupotential

Dinkel ist so vielseitig einsetzbar wie der Weizen. Es ist jedoch ein zusätzlicher Arbeitsgang, das sogenannte Röllen oder Entspelzen notwendig. Dieser Arbeitsgang mit einer Kerne-Ausbeute von rund 72 Prozent verteuere den Dinkel im Vergleich zu Weizen. «Deshalb wird Dinkel in Spezialitäten eingesetzt, bei denen der Konsument bereit ist, einen Mehrpreis zu bezahlen», erklärt Thomas Kurth. Mengenmässig werde Dinkel und Urdinkel heute unter anderem zu Mehl für den Detailhandel, für Brot, Zöpfe und Backwaren sowie für Cracker und Biskuits eingesetzt. Und für exklusive Schweizer Pasta – bei Teigwaren kommt sonst hauptsächlich kanadischer Hartweizen zum Zug. Aufkommende Spezialitäten seien auch Pops, Flakes oder das «Kernotto», polierter Urdinkel, der als Reisersatz wie Risotto eingesetzt werde.

Obwohl letztes Jahr die Anbaufläche von Urdinkel bereits um rund 8 Prozent gesteigert und darauf eine gute Ernte erzielt werden konnte, seien Lieferlücken auf allen Labelstufen und in fast allen Absatzkanälen auch in diesem Jahr nicht zu vermeiden. Die IG Dinkel hat deshalb kurzfristig Notmassnahmen beschlossen: Unter anderem wird der Dinkelpreis auf die diesjährige Ernte hin um zwei Franken angehoben und für die Ernte 2022 soll der Preis dann erneut um mindestens fünf Franken steigen. Weiter wurde das angestammte Urdinkel-Anbaugebiet um zehn Kilometer auf 40 Kilometer rund um die Röllsammelstellen erweitert. Diese Massnahmen werden allerdings noch nicht reichen, um die gesteigerte Nachfrage zu decken: «Für die Ernte 2022 bräuchte es ein Flächenwachstum von zirka 15 Prozent – für die Dinkelfläche Schweiz bedeutete dies ein Zuwachs von nicht ganz 1’000 Hektaren», erläutert Thomas Kurth abschliessend.