Die Wildschweinschäden im Griff
Die Wildschweinbestände in der Schweiz nehmen stetig zu. Die nachhaltige Regulation der Wildschweinbestände ist eine ...
Vor mir im Wald riecht es penetrant nach Maggi. Genau genommen nach dem Aromastoff Sotolon, der wie die Maggi-Würzsauce oder Liebstöckel, auch Maggikraut genannt, riecht. Hinter den Büschen essen aber keine Pfadfinder ihre Suppe aus den Gamellen – dort verstecken sich Wildschweine.
Wenn Wildschweine aggressiv sind, werden sie im wörtlichen Sinne stinkig. Und hinter den Büschen steckt ein Problem: Ein Muttertier, Bache genannt, mit ihren Jungtieren. Ein Problem, das 150 Kilogramm schwer ist, mit einem kräftigen Gebiss und scharfen Eckzähnen – und mit 40 Kilometer pro Stunde so schnell wie ein E-Bike.
Rechtsumkehrt! Zurück zur Landwirtin, auf deren Äckern im Kanton Zürich der Rest der Wildschweinrotte wütet. Mit Rüssel und Eckzähnen wühlen die Wildschweine nach Engerlingen, Würmern und Mäusen. Sie sind scharf auf das tierische Eiweiss unter dem Boden. Und auf die landwirtschaftlichen Kulturen wie Mais und Kartoffeln, Weizen und Raps sowie Zuckerrüben.
Die Landwirtin hat ihren Weizen mit einem dreifach gespannten und mit 10’000 Volt extra starken elektrischen Weidezaun gesichert. Dessen blauen Litzen berührt man besser nicht, das fitzt saumässig. Und vom akustisch-optischen Wildschwein-Schreck am Feldrand bekommen Wanderer fast einen Herzinfarkt, die Wildschweine lassen sich aber nicht beeindrucken. «Nichts kann die Wildschweine aufhalten», klagt die Landwirtin, «es kommen immer mehr!»
Dabei galten die Wildschweine in der Schweiz im 20. Jahrhundert als ausgerottet. Abholzung und Übernutzung der Wälder sowie die Jäger machten den Wildschweinen den Garaus. Gejagt wurde das Schwarzwild, wie die Tiere wegen ihrer Fellfarbe auch genannt werden, weil die Jäger mit einem einzigen erlegten Tier ihre Familien wochenlang ernähren konnten. Ein Überläufer – ein einjähriges Wildschwein – mit 60 Kilogramm Lebendgewicht bringt 24 Kilogramm bestes Fleisch und dazu bis zu 10 Kilogramm Speck.
Erst in den 1920er-Jahren kamen aus Frankreich, Deutschland und Italien wieder Wildschweine in die Schweiz. In den 1980er-Jahren stieg der Bestand stark an und ab dem Jahr 2000 explodierte die Population regelrecht. Die bevorzugten Reviere vom Schwarzwild in der Schweiz sind im Malcantone im Kanton Tessin, im Unterwallis, entlang des Jurabogens in den Kantonen Waadt, Neuenburg, Jura und Bern sowie im Mittelland in den Kantonen Solothurn, Aargau, Zürich und Thurgau. Im Mittelland wurden die Wildschweine lange von der Autobahn A1 zurückgehalten. Seit einigen Jahren nutzen sie aber frech Unterführungen und Autobahnbrücken, um auf die Südseite der A1 zu kommen.
Wie gross die Schwarzwildpopulation in der Schweiz heute ist, kann nur geschätzt werden. Sicher ist, dass es immer mehr werden. Fachleute gehen davon aus, dass sich die Zahl seit dem Jahre 2000 von 10’000 auf über 30’000 Wildschweine erhöhte.
Die Bestandeszunahme der Wildschweinpopulation hat fünf Ursachen, die zusammenspielen:
Die ersten vier Punkte sind menschengemacht und nicht mehr rückgängig zu machen. Der fünfte Punkt hingegen wäre machbar. Die Schweizer Jäger erlegten 2022 nur 49 Prozent Jungtiere, dafür aber 26 Prozent Keiler und 25 Prozent Bachen. Für die Bestandesregulierung hätte die optimale Jagdstrecke 80 Prozent Jungtiere und nur 15 Prozent Bachen und 5 Prozent Keiler.
Es sind aber alle fünf Punkte zusammen, die verheerende Auswirkungen auf die Landwirtschaft haben.
Wildschweine durchwühlen oft «nur» die obersten fünf Zentimeter der Bodenschicht, das dafür über ein ganzes Feld. Und wenn ihr guter Geruchssinn Mäuse anzeigt, graben sie mit Eckzähnen und Rüsseln bis zu zwei Quadratmeter grosse und 60 Zentimeter tiefe Krater. Ein Wildschwein durchwühlt täglich 120 Quadratmeter. Ein einziges Wildschwein zerstört pro Jahr eine Ackerfläche von 4,4 Hektaren oder sechs Fussballfeldern, eine Rotte 154 Fussballfelder.
«In meinen Äckern und Kunstwiesen habe ich nicht nur eine Rotte, sondern gleich drei Rotten!», erzählt die Landwirtin, welche mir die Wildschwein-Schäden zeigt. Und diese verursachen allein auf ihrem Betrieb im Norden des Kantons Zürich jedes Jahr einen direkten Schaden von über 10’000 Franken.
Dazu kommen die langfristigen Folgekosten. Im verregneten Frühling 2024 konnte die Landwirtin mit dem Traktor nicht auf die durchnässten Wiesen, um die Schäden zu beheben. Selbst im besten Fall müssten die Kühe mit Erde verschmutztes Gras fressen. Weil ihre 30 Milchkühe deshalb jährlich 1’000 Liter weniger Milch geben, verliert die Zürcher Landwirtin weitere 15’000 Franken pro Jahr.
Die Erhaltung von angepassten Wildschweinbeständen und der Tragbarkeit der Schäden in der Landwirtschaft erfordert eine gewisse Balance. Die effektive und nachhaltige Regulation von Wildschweinbeständen ist allerdings eine der grössten Herausforderungen der heutigen Jagd: Die Wildschweine sind primär nachtaktiv – dies erfordert zusätzlichen Einsatz von Jägern, die ihre Aufgabe neben Familie, Beruf und gesellschaftlichen Verpflichtungen wahrnehmen und die zudem Patent- und Pachtgebühren dafür zahlen, dass sie auf die Jagd gehen dürfen.
Und Wildschweine riechen und hören sehr gut – der feinste Fremdgeruch oder das leiseste Geräusch kann sie zum Rückzug veranlassen. Ausserdem sind Wildschweine sehr lernfähig und meiden Stellen, an denen sie schlechte Erfahrungen gemacht haben, über längere Zeit.
Ausserdem ist eine gut funktionierende Zusammenarbeit zwischen Jagdseite und Landwirtschaft wichtig für eine erfolgreiche Wildschadenverhütung: Die von Wildschäden betroffenen Landwirtinnen und Landwirte müssen willens sein, mit den lokalen Jägern zusammenzuarbeiten. Eine sinnvolle Feldbewirtschaftung, Ablenkfütterung, Zäune, Schussschneisen, Waldabstände von Fruchtflächen, sowie die Möglichkeit Hochsitze zu stellen, erhöht die Prävention von Schäden. Weiter ist zu bedenken, dass es gesetzliche Einschränkungen bezüglich Schonzeiten oder technischen Hilfsmitteln gibt. So ist es nicht möglich, bei jeder Witterung zu jagen und nicht sinnvoll, dem Wild pausenlos nachzustellen. Dies führt zu Stressverhalten beim Wild und somit zu vielen dezentralen Schäden.
Gesamtschweizerisch verursachten die Wildschweine von 2010 bis 2022 jährliche Schäden von 2,6 bis 4,3 Millionen Franken, zusammengerechnet über 41 Millionen Franken. Am schlimmsten erwischt es die Kantone: Aargau und Waadt mit je 6,7 Millionen, Thurgau mit 4,9 Millionen, Jura mit 4,2 Millionen, Zürich mit 3,8 Millionen und Tessin mit 3,2 Millionen Franken.
Die Entschädigungen sind kantonal geregelt und sehr unterschiedlich. Die einzige Konstante: Entschädigungen werden nur ausgezahlt, wenn Landwirte und Jäger «zumutbare Massnahmen zur Verhinderung» getroffen haben.
Wenn ein Landwirt nicht mehrere tausend Franken in superstarke Weidezaungeräte und kilometerweise spezielle Litzen investiert hat, und wenn die Jäger auf seinem Land keine Hochsitze aufgestellt haben, gibt es keine Entschädigung. Die langfristigen Folgekosten werden gar nicht entschädigt.
Die gesamtschweizerischen Abschusszahlen schwanken seit 2010 von Jahr zu Jahr. Im schwächsten Jahr 2011 wurden nur 4’263 Wildschweine erlegt, im stärksten Jahr 2021 fast 13’000 Wildschweine. Im jährlichen Durchschnitt beträgt die Jagdstrecke 8’259 Wildschweine. Nach Ansicht der Landwirtinnen und Landwirte viel zu wenig.
Das Schwarzwild ist scheu, schlau und äusserst lernfähig. In ihren Hochsitzen am Feldrand müssen die Jäger oft tagelang ansitzen und auf das Wild warten. Wenn die Rotte endlich ins Schussfeld kommt, darf nicht jedes Tier erlegt werden. Schiesst ein Jäger eine Muttersau ab, die ihren Jungen Milch gibt, droht ihm eine empfindliche Busse.
Um die Wildschweinjagd effizienter zu machen, erlauben einzelne Kantone die Nachtjagd und Nachtsichtgeräte. Oder sie lockern die Schonzeit, die normalerweise von Februar bis Juni dauert. Frischlinge und Überläufer dürfen sogar in der Schonzeit erlegt werden.
Bei der Patentjagd dürfen patentierte Jäger während der Jagdsaison im Herbst im ganzen Kanton jagen. Patentjagd kennen die Kantone Appenzell Ausserrhoden und Innerrhoden, Bern, Fribourg, Glarus, Graubünden, Jura, Neuenburg, Nidwalden, Obwalden, Schwyz, Tessin, Uri, Waadt, Wallis, Zug.
Bei der Revierjagd verpachten die politischen Gemeinden das Jagdrecht revierweise an eine Jagdgesellschaft. Die Jäger dürfen in ihrem Revier, abgesehen von den Schonzeiten im Frühling, das ganze Jahr jagen.
Die Jagd auf das Schwarzwild muss aber intensiver werden, sonst werden die Wildschweinbestände und deren Schäden weiter ansteigen. «Der Erfolg in der Wildschweinjagd ist auch eine Frage des Jagdsystems», erklärt Martin Baumann vom Bundesamt für Umwelt BAFU, «je nach Kanton haben wir eine Patentjagd oder Revierjagd».
«In Kantonen mit Patentjagd ist die Wildschweinpopulation meist besser unter Kontrolle», weiss Martin Baumann, «weil dort der Jagddruck höher ist als bei der Revierjagd.» Aber auch mit Revierjagd sei es möglich, effizient Wildschweine zu jagen, wenn die Jagdgesellschaften über ihre Reviere hinaus kooperieren und andere Methoden einsetzen.
Künftig werden deshalb neue «Jäger» auf die Wildschweine losgelassen: speziell ausgebildete Jagdhunde. Damit diese Stöberhunde von den Wildschweinen nicht verletzt werden – 150 Kilogramm Wildschwein mit scharfen Eckzähnen stehen 25 Kilogramm Jagdhund gegenüber – müssen die Hunde den richtigen Umgang mit dem Schwarzwild lernen.
Dafür wurde als nationales Projekt 2019 im zürcherischen Elgg ein Schwarzwild-Gewöhnungsgatter eröffnet. Auf dem sechs Hektaren grossen Trainingsgelände lernen Jagdhunde, die Wildschweine schnell aufzufinden, sie aus dem Gestrüpp zu treiben – und dennoch einen respektablen Abstand einzuhalten.
Mit solchen Jagdhunden können Jagdgesellschaften die Wildschweine vor allem im Winter sehr effizient tagsüber jagen. Und im Sommer können sie das Schwarzwild aus den landwirtschaftlichen Kulturen vergrämen. Ein Lichtblick für die verzweifelte Landwirtin, auf deren Bauernhof die Wildschweine mitten am Tag schon den Garten umgraben.