Waldzukunft Schweiz: Umgang mit Klimawandel und Wildproblematik

Der Schweizer Wald steht vor einer Reihe ernsthafter Herausforderungen, die durch klimatische Veränderungen und steigenden Wildeinfluss verstärkt werden. Insbesondere auf kantonaler Ebene ist die Not zu spüren.
Zuletzt aktualisiert am 25. Januar 2024
von Renate Hodel
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Wald Bach Ji
Wenn die Verjüngung fehlt, erholen sich die Wälder nach Störungen wie Stürmen oder Borkenkäferbefall viel langsamer. Zudem können sie dadurch ihre Schutz- und Nutzfunktionen erst viel später wieder erfüllen. (jin)

Die langanhaltenden trockenen und warmen Verhältnisse in den letzten Jahren haben deutliche Veränderungen im Wald verursacht. Besonders besorgniserregend ist die geringe Verjüngung in einigen Gebieten. «Es gibt mehr tote und geschädigte Bäume und in einigen Regionen wachsen wenig junge Bäume nach», erklärt Benno Schmid, Leiter Kommunikation und Politik beim Verband der Waldeigentümerinnen und Waldeigentümer WaldSchweiz. Dies zeigten die Zwischenresultate über die Erhebungsjahre 2018 bis 2022 des laufenden fünften Landesforstinventars. «Wenn die gesetzlich verankerten Waldfunktionen nicht mehr gewährleistet werden können, wird es problematisch», sagt Benno Schmid weiter. Diese Entwicklungen stellten eine Bedrohung für die Schutz-, Nutz- und Wohlfahrtfunktionen des Waldes dar.

Dabei spielt der Wildeinfluss eine zentrale Rolle: Seit dem zweiten Landesforstinventar von 1993/95 sei das Ausmass des Wildverbisses, insbesondere bei klimawandelrelevanten Baumarten, stetig gestiegen, erklärt Benno Schmid. Diese Entwicklung beeinträchtigt die Widerstandsfähigkeit und Vielfalt der Wälder erheblich und unterminiert die Resilienz gegenüber künftigen klimatischen Herausforderungen.

Regionale Unterschiede und Ursachen

Interessant sind die regionalen und kantonalen Unterschiede beim Wildeinfluss. Benno Schmid weist darauf hin, dass unterschiedliche Tierarten in verschiedenen Gebieten für den Wildverbiss verantwortlich sind. Während im Mittelland oft das Reh Hauptverursacher ist, spielt in anderen Regionen der Rothirsch eine grössere Rolle.

Im waldreichen Kanton Bern wird alle zwei Jahre ein Wildschadengutachten erstellt, welches den Einfluss des Wildes auf die Waldverjüngung dokumentiert. Die Ergebnisse des Gutachtens 2023, welches diese Woche präsentiert wurde, zeigen eine leichte Verschlechterung im Vergleich zu den Vorjahren. «Eine erweiterte Messmethode, die dem klimarobusten Wald stärker Rechnung trägt, akzentuiert dieses Bild zusätzlich», erläutert Isabel Ballmer vom Amt für Wald und Naturgefahren des Kantons Bern. Besonders im östlichen Teil des Kantons sei der Einfluss von Rothirschen, Rehen und Gämsen auf die Waldverjüngung stärker sichtbar und insbesondere in den Regionen Oberaargau, Emmental und Interlaken-Oberhasli sei die Situation problematisch.

Im Kanton Tessin zeichnet sich ein ähnliches Bild – so haben die Hirschbestände dort in den letzten 25 Jahren erheblich zugenommen haben, was zu offensichtlichen Konflikten im Wald führt: «Die Zahlen haben sich praktisch verdoppelt, rund um Locarno und im Maggiatal sogar verzehnfacht», erläutert Roland David, Leiter des Tessiner Forstamtes. Diese Überpopulation an Hirschen, Rehen und Gämsen gefährde die Naturverjüngung, die für die Erhaltung der Waldfunktionen unerlässlich sei.

Wald Wildschaden Geschaelte Fichte O Odermatt WSL

Die Auswirkungen des Klimawandels und des Wildverbisses

Und obwohl die Waldfläche im Tessin in den letzten Jahrzehnten ebenfalls zugenommen habe und nun etwa die Hälfte des Kantonsgebiets abdecke, sei der Druck durch das Wild oft zu gross. «25 Prozent der direkten Schutzwälder befinden sich unter starkem Wilddruck», betont Roland David und weist auf die dringende Notwendigkeit hin, angemessene Lösungen zu finden, um die negativen Auswirkungen einer zu hohen Huftierdichte zu bekämpfen, insbesondere im Kontext des Klimawandels.

Das bestätigt auch Christophe Clivaz, Leiter der Dienststelle für Wald, Natur und Landschaft des Kantons Wallis. Auch der Walliser Wald leide in den letzten zehn Jahren zunehmend unter dem Klimawandel: «Wir stellen eine Zunahme der kranken und toten Bäume, eine Zunahme von Wäldern mit fehlender Verjüngung und eine Senkung des Holzzuwachses im Wald fest», erklärt Christophe Clivaz. Diese Entwicklungen seien alarmierend und würdenauf ein tiefgreifendes ökologisches Problem hinweisen.

Derweil weist der Bündner Wald mehrheitlich einen stabilen Zustand auf. Aber auch im Kanton Graubünden sei die Waldverjüngung auf grossen Teilen der Waldfläche problematisch, sagt Marco Vanoni, Bereichsleiter Schutzwald und Waldökologie des Bünder Amts für Wald und Naturgefahren. Und auch hier wird die Problematik vorwiegend durch einen zu hohen Wildeinfluss verursacht. Laut Marco Vanoni sind die Bestandeshöhe des Schalenwilds und die Baumarten entscheidend: «In Nordbünden, wo die Weisstanne das Hauptverbreitungsgebiet hat, ist die Anfälligkeit für Wildschäden höher als in höheren Lagen oder im Engadin, wo Fichten- oder Lärchen-Arvenwälder vorherrschen», erklärt er.

Erforderliche Massnahmen und politische Initiativen

Die Bewältigung dieser Probleme erfordert eine Reihe von Massnahmen – an vorderster Front steht die Notwendigkeit einer funktionierenden Waldverjüngung. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) spielt hier eine zentrale Rolle, indem es die Kantone anweist, spezifische Wald-Wild-Konzepte zu entwickeln. Diese Konzepte sollen die Kooperation zwischen Jagd, Waldwirtschaft und anderen Sektoren wie Landwirtschaft und Tourismus fördern. Die Massnahmen variieren von Kanton zu Kanton und reichen von zusätzlichen Jagdtagen über Anpassungen der jagdlichen Ziele bis hin zu gezielten Bejagungen.

So hat die Regierung des Kantons Graubünden die Strategie «Lebensraum Wald-Wild 2021» verabschiedet, die 40 Massnahmen umfasst, darunter sieben solche regionalen Wald-Wild-Konzepte. Diese Massnahmen betreffen die Jagd, den Waldbau und den Lebensraumschutz.

Und auch der Kanton Bern setzt seit 2019 Wald-Wild-Konzepte um. Diese Konzepte sollen einen ganzheitlichen Ansatz bieten und verschiedene Massnahmen wie Jagd, Waldbau und Störungsreduktion integrieren, erklärt Niklaus Blatter vom Jagdinspektorat des Kantons Bern. «Was bereits als grosser Erfolg zu werten ist, ist der Dialog zwischen den einzelnen Anspruchsgruppen», so Niklaus Blatter.

Ebendiese Wichtigkeit der Zusammenarbeit zwischen den kantonalen Ämtern sowie zwischen Jägern und Förstern, betont auch Benno Schmid von WaldSchweiz. Er sieht in einer verbesserten Kommunikation und Kooperation einen Schlüssel zur Lösung vieler Probleme.

Rothirsch schält Esche. (O. Odermatt, WSL)

Weiterer Handlungsbedarf

Um die Probleme anzugehen, wurden auch im Tessin bereits Massnahmen ergriffen und ein Wald-Wild-Konzept ausgearbeitet, welches seit 2016 umgesetzt wird. Roland David betont jedoch, dass die festgesetzten Abschusspläne bis jetzt oft nicht erreicht wurden und tendenziell niedriger waren als im Konzept definiert. «Es wäre eine stärkere Reduzierung der Wildbestände notwendig, aber das derzeitige Jagdsystem ist allein nicht in der Lage, den Trend umzukehren», erklärt Roland David vom Tessiner Forstamt. Es bedürfe bedeutender Änderungen auf mehreren Ebenen, um das Gleichgewicht zwischen Wald und Wild wiederherzustellen.

Seit 2008 wurden auch im Kanton Wallis die forstlichen Massnahmen verdoppelt und seit 2019 nochmals um 25 Prozent erhöht: «Seitdem behandeln wir 2000 Hektar Schutzwald pro Jahr im Kanton, was einer Investition von über 20 Millionen Franken pro Jahr entspricht», unterstreicht Christophe Clivaz die Bedeutung dieser Bemühungen. Basierend auf dem kantonalen Wald-Wild-Konzept sowie mehreren regionalen Konzepten sei zudem die Zusammenarbeit zwischen Jagd und Forst intensiviert worden. In gewissen Regionen sei die Schalenwildpopulationen aber nach wie vor zu hoch und müsse weiter reduziert werden: «Besonders im ganzen Oberwallis, Orsières und Val d’Illiez verhindern diese Populationen eine natürliche Waldverjüngung» so Christophe Clivaz von der Walliser Dienststelle für Wald, Natur und Landschaft.

Langfristige Perspektiven und Herausforderungen

Die Wald-Wild-Thematik sei eine Daueraufgabe und es müsse kontinuierlich daran gearbeitet werden, unterstreicht Niklaus Blatter vom Berner Jagdinspektorat. So gebe es auch Erkenntnisse, dass es nicht nur um die Quantität der Bejagung, sondern auch um die Art der Bejagung geht: «Wir haben angefangen, viel mehr Kahlwild zu bejagen und inzwischen ist die Quote bei 80 Prozent Kahlwild und nur noch 20 Prozent Geweihträger», erläutert Niklaus Blatter weiter. Er ist überzeugt, dass dies eine Massnahme ist, die sich mit Garantie auswirken wird.

Auf die Frage, warum es bis 2021 dauerte, um im Kanton Bern das erste Wald-Wild-Konzept umzusetzen, erklärt Niklaus Blatter, dass es an der Umsetzung der politischen Aufträge und der notwendigen Ressourcen lag. Michel Brügger, Leiter der Waldabteilung Alpen beim Berner Amt für Wald und Naturgefahren, fügt hinzu, dass der Bedarf früher möglicherweise noch nicht so stark gewesen sei: «Die Entwicklung des Wildschadengutachtens zeigt, dass 2015 noch fast zwei Drittel der Waldflächen als tragbar galten – trotzdem sind wir nun schon ein paar Jahre dran und es ist ein längerer Prozess.»

Wald Wildschaden Verbiss Tanne Ueli Wasem WSL

Die Rolle der Forstwirtschaft und finanzielle Aspekte

Ein weiterer Aspekt bei diesem Prozess sei die Rolle der Forstwirtschaft und Holznutzung, ergänzt Benno Schmid von WaldSchweiz. «Die zukunftsfähige, klimaangepasste Verjüngung der Wälder erfordert erhebliche finanzielle Ressourcen», so Benno Schmid. Da dies viel Geld koste, sei der Bund in der Motion von Ständerat Daniel Fässler aufgefordert worden, zusätzliche finanzielle Mittel für die Waldbewirtschaftung und die Anpassung des Waldes an den Klimawandel zu sprechen. Diese finanzielle Unterstützung sei entscheidend, um den Wald für zukünftige Generationen zu erhalten und zu stärken.

Grundsätzlich sind sich aber sowohl Kantone wie auch Bund über die Notwendigkeit eines gesunden Gleichgewichts zwischen Baumverjüngung und Wildeinfluss einig. «Dies erfordert eine regulierte Schalenwildpopulation durch die Jagd und einen naturnahen Waldbau», so Christophe Clivaz von der Walliser Dienststelle für Wald, Natur und Landschaft. Gleichzeitig müssten die zunehmenden Störungen auf das Wild und der starke Klimawandel berücksichtigt werden. Und Niklaus Blatter vom Berner Jagdinspektorat ergänzt: «Aus unserer Sicht gehört das Wild zum Wald und der Wald zum Wild – es muss unser Ziel sein, ein natürliches Gleichgewicht zu schaffen und zu erhalten und dafür stehen wir ein.»

Für Roland David vom Tessiner Forstamt besteht eine wesentliche Herausforderung aber darin, das Bewusstsein für das Problem sowohl bei den Akteuren als auch in der Öffentlichkeit zu schärfen. Er betont die Bedeutung der Sensibilisierung für die Schutzfunktion des Waldes, die Anpassung an den Klimawandel und den Verlust der Artenvielfalt. So erfordert die Kombination aus klimatischen Veränderungen, steigendem Wildeinfluss und regionalen Unterschieden ein koordiniertes Vorgehen und die Zusammenarbeit aller beteiligten Akteure. Die geplanten Massnahmen und politischen Initiativen sind entscheidende Schritte, um die Vitalität und Nachhaltigkeit des Schweizer Waldes für die Zukunft zu sichern.