Quereinstieg der Städter in die Landwirtschaft

90 Prozent der neuen Lernenden für den Beruf der Landwirtin oder des Landwirts sind Bauerntöchter und Bauernsöhne. Die Landwirtschaft findet aber auch immer mehr Anhänger ausserhalb der bestehenden Strukturen: So ist das Stockengut in Kilchberg für einige Quereinsteiger quasi zur Bastion geworden.
Zuletzt aktualisiert am 6. Mai 2022
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Viele Bauernkinder haben in ihrem Erwachsenenleben nur noch wenig mit Landwirtschaft am Hut. Umgekehrt gibt es aber auch «Stadtkinder», die bewusst den Beruf der Landwirtin oder des Landwirts wählen und dies mit Überzeugung tun. Der Gutsbetrieb «Uf-Stocken» der Zürcher Gemeinde Kilchberg – besonders bekannt als Austragungsort des traditionellen und prestigeträchtigen Kilchberger Schwinget – wird seit 15 Jahren von kundigen «Quereinsteiger-Händen» geleitet: Das Verwalterehepaar Gabi Caretta und Stephan Vetsch sind beides gebürtige Städter, nun aber bereits seit über 30 Jahren in der Landwirtschaftsszene unterwegs.

Traumberuf Landwirt

«Ich habe in meinen Jugendjahren in den Ferien mit meinen Eltern oft bei einem Bergbauern ausgeholfen», erzählt Stephan Vetsch. So wusste er schon als kleiner Bub ganz sicher, dass er einmal Landwirt werden wollte. In Zollikofen hat Stephan Vetsch dann das «Buure-Tech» absolviert – heute die Berner Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften. «Über einen Studienfreund, der einen Hof besass, fand ich schliesslich meinen Weg in die Landwirtschaft», beschreibt Stephan Vetsch seinen Werdegang weiter.

Nach vielen Jahren im Kanton Bern kamen er und seine Frau als Verwalter dann auf das Stockengut in Kilchberg. «Meine Frau kam zwar in meinem Schlepptau zum Bauern – es war aber immer ein gemeinsamer Wunsch, einmal auf einem Hof selbstständig wirken zu können», sagt Stephan Vetsch. Als Quereinsteiger zu einem eigenen Hof zu kommen, sei allerdings eine Frage von viel Geld und bei einer Pacht komme ausserdem der Faktor Glück hinzu: «Zu einem eigenen Hof oder zu einer Pacht haben wir es nicht gebracht, aber immerhin als Verwalter im Bewirtschaftungsverhältnis auf das Stockengut», schmunzelt Stephan Vetsch.

9000 Mit-Landwirtinnen und Mit-Landwirte

Das Stockengut gehört den Kilchbergerinnen und Kilchbergern. Der Gutsbetrieb grenzt an die Stadt Zürich und weist ein reges Besucheraufkommen auf: Schulklassen und Eltern mit ihren Kindern, die auf dem Hof verweilen oder Anwohnerinnen und Anwohner, die zum täglichen oder wöchentlichen Einkauf vorbeikommen oder auch der Kilchberger-Schwinget, der durch die Entwicklung des Schwingens zum Trendsport in den letzten Jahren entsprechend Zulauf gewonnen hat und jeweils viel Publikum auf das Areal bringt.
Gegenüber den Eigentümerinnen und Eigentümer und auch den Besucherinnen und Besuchern, sei es ihnen wichtig, dass der Hof immer sauber und gepflegt sei, meint der Verwalter, Stephan Vetsch: «Wir haben jeden Tag zwischen zwanzig und hundert Besucherinnen und Besucher auf dem Hof – der erste Eindruck zählt.» Aufgrund der Besitzverhältnisse steckten viele Erwartungen im Hof, aber auch ganz viel Erfüllung.
Trotz viel Besuch werde eine normale Landwirtschaft vorgelebt: «Wir säen, wir ernten – das funktioniert bei uns gleich wie an anderen Orten auch», meint Stephan Vetsch. Auf dem Stockengut herrsche insofern eine andere Ausgangslage, weil alle Besucherinnen und Besucher die Produkte bereits bei der Entstehung sähen. So könnten die Kundinnen und Kunden so den ganzen Weg der Lebensmittelproduktion mitverfolgen.
«Und als ursprüngliche Stadtkinder verstehen wir vielleicht ein bisschen besser wie ein Städter einen Bauernhof von aussen betrachtet – daher haben wir bei der Verknüpfung dieser beiden Welten sicher einen gewissen Vorteil», sagt Stephan Vetsch. Einerseits würden sie das landwirtschaftliche Knowhow mitbringen und andererseits auch die Stadtwelt aus eigener Erfahrung kennen: «So können wir als Brückenbauer walten.»

Vom Stadtkind zur Landwirtin

Auf dem Stockengut gibt es bisweilen aber noch mehr «Stadtkinder». Nicht nur Gabi Caretta und Stephan Vetsch sind Städter, sondern auch die aktuelle Lehrfrau Linda Oswald. «Wir hatten schon mehr Städter als Lehrlinge – wir haben da keine Berührungsängste, weil wird das selbst eben auch kennen», meint Stephan Vetsch.

Die Stadtzürcherin Linda Oswald ist gelernte Schreinerin und macht auf dem Stockengut das erste Praxislehrjahr im Rahmen ihrer Zweitausbildung zur Landwirtin. Ihr Wunsch, auf dem zweiten Bildungsweg Landwirtin zu lernen, entstand vor allem durch eine Mischung von grosser Neugierde und dem Verlangen, Wissenslücken zu füllen: «Ich war in einem Praktikum in Italien und merkte, dass ich kaum Ahnung davon hatte, wieviel überhaupt hinter der Produktion von Lebensmitteln steckt», erklärt sie.

Immer weniger Vorurteile

Ihre Entscheidung sei von allen gut aufgenommen worden und sie habe nur positive Rückmeldungen erhalten. «Ich habe bisher noch nie die Erfahrung gemacht, dass mich jemand aufgrund fehlender Erfahrung oder Ahnung ausschliessen wollte», erzählt Linda Oswald. In ihrer Klasse in der Berufsschule sei sie auch keinesfalls die einzige Quereinsteigerin. Zu seiner Zeit sei das noch anders gewesen, meint Stephan Vetsch. «Während meiner Lehrzeit ging es noch traditioneller zu und her», erinnert er sich. Seine Eltern hätten seine Entscheidung zwar unterstützt, er habe aber auch anderes erlebt. Sein letztes Sekundarschuljahr hat Stephan Vetsch darum nicht mehr in bester Erinnerung: «Nachdem ich bekanntgab, dass ich Bauer werden will, hat selbst der Lehrer gespöttelt. Die fanden meine Wahl seltsam und dachten, dass ich dann immer stinken würde – die Klischeegeschichten halt.»

Landwirtschaft für alle

Und auch Linda Oswald wird trotz viel Wohlwollen vor allem noch mit einem Vorurteil konfrontiert: Sehr oft würden Aussenstehende voraussetzen, dass sie aufgrund ihrer Berufswahl auf einem Hof aufgewachsen sei, sagt sie. «Von fast allen höre ich jeweils den Kommentar ‹Ah, du lernst Landwirtin – dann bist du also auf einem Hof aufgewachsen und hast einen Betrieb zuhause›», erzählt Linda Oswald. In der Gesellschaft sei es irgendwie noch nicht so ganz angekommen, dass Landwirtin oder Landwirt ein Beruf sei, den eigentlich jede und jeder lernen könne und der allen offenstehe. «Es nimmt schliesslich auch nicht jeder an, dass wer Maler lernt, bereits ein Geschäft zuhause hat – beim Bauernberuf scheint das aber nach wie vor sehr verknüpft zu sein», gibt Linda Oswald zu bedenken. Auch Stephan Vetsch ist überzeugt, dass der Weg in die Landwirtschaft allen möglich sei und nicht unnötig mit Hindernissen verbaut werden sollte: «Es braucht einfach die Ausbildung und man muss Freude daran haben.»

Berufung und Lebensstil

Und schlussendlich brauche es zum Landwirtin oder Landwirt sein auch Überzeugung. «Man ordnet der Landwirtschaft schon ein bisschen sein Leben unter, man lebt die Landwirtschaft und mit Tieren sowieso – da ist man 365 Tage im Jahr investiert in die Sache», meint Stephan Vetsch und seine Frau Gabi Caretta fügt an: «Es gibt viele Berufe, wo es auch Berufung braucht – aber in der Landwirtschaft und vor allem bei der Tierhaltung ist es halt so, dass man nichts wirklich verschieben kann. Ich mach’s nicht heute, sondern erst morgen – das geht in der Landwirtschaft nicht.»

Bauern sei für sie ein bewusst gewählter Lebensstil, ergänzt Linda Oswald. Und gerade als Stadtkind habe sie diesen Beruf sehr bewusst gewählt. Im Hinblick auf ihre Zukunft, sei ihr auch klar, dass ihre Chancen, einmal etwas selbst aufziehen zu können, eher gering seien. Sie könne sich aber gut vorstellen, beispielsweise einen Bauernhof in einer Gemeinschaft zu führen. «Mein Ziel ist es schon, auf dem Land zu leben und der Landwirtschaft treu zu bleiben», meint sie.

Es braucht neue Inputs

Stephan Vetsch sieht die Tatsache, dass denn auch vermehrt Menschen von ausserhalb in die Landwirtschaft drängen, als grosse Chance. «Es läuft gegenwärtig ja sehr viel in der Landwirtschaft – wir sind in einem steten Wandel», meint er. Unter anderem Klimawandel, Nachhaltigkeit oder Wirtschaftlichkeit würden die Landwirtschaft extrem beschäftigen und bei diesen zukunftsweisenden Diskussionen seien die Jungen besonders wertvoll: Es gehe schliesslich um die Zukunft der Landwirtschaft und damit auch um die Zukunft der jungen Landwirtinnen und Landwirte. «Und darum ist von Seite Landwirtschaft auch eine Offenheit da, um andere Ideen einfliessen zu lassen beispielsweise von Menschen, die quereinsteigen und andere Ideen mitbringen», sagt Stephan Vetsch.

Betriebsspiegel Hof Stockengut

Betrieb: Rund 50 ha Land in und um Kilchberg – 32 Hektaren davon sind Grünland, gut 16 Hektaren sind Ackerland und knapp 2 Hektaren sind Spezialkulturen wie die Obstanlagen oder die Christbaumkultur
Tiere: 26 Mutterkühe mit ihren Kälbern – hauptsächlich Rhätisches Grauvieh, 1000 Legehennen, 9 Pensionspferde und ein paar Kleintiere wie Esel, Burenziegen, Schweine und Hasen
Vermarktung: Ausschliesslich Direktvermarktung im eigenen Hofladen – Fleisch, Eier, Äpfel und Backwaren aus hofeigenem Getreide sowie verschiedene andere ausgewählte Produkte von benachbarten Höfen oder von kleinen Produzenten aus der Region
www.stockengut.ch

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