Lebensmittelpyramide wird von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft beeinflusst
In Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es neue Empfehlungen zur gesunden Ernährung. Hinter diesen Lebensmitt...
Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV hat zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung SGE neue Ernährungsempfehlungen erarbeitet und Mitte September präsentiert. Sie berücksichtigen neu vier Dimensionen: Bedarfsgerechte Nährstoffzufuhr durch eine vielfältige Lebensmittelauswahl, die Gesundheitsförderung, Nachhaltigkeitsaspekte sowie in der Schweiz übliches Essverhalten. Diese Empfehlungen sollen den Bürgerinnen und Bürgern eine Richtlinie bieten, um sich gesünder und ausgewogener zu ernähren.
Die neuen Schweizer Empfehlungen für eine gesunde Ernährung und die dazugehörige neue Lebensmittelpyramide riefen gemischte Reaktionen hervor und die meisten Organisationen und Verbände hatten zumindest einen Kritikpunkt anzubringen. Im Rahmen des diesjährigen Milchforums der Schweizer Milchproduzenten SMP beleuchtete Beatrice Conrad, Ernährungsberaterin und ehemalige Präsidentin des Schweizerischen Verbands der ErnährungsberaterInnen (SVDE), den Stellenwert der neuen Lebensmittelpyramide in der praktischen Ernährungsberatung.
Beatrice Conrad betonte, nicht als starres Regelwerk zu betrachten ist. «Die Pyramide gilt für uns als eine Grundlage, als eine Leitlinie – aber Ernährungsberatung ist weit mehr, als die Pyramide dem Konsumenten und der Konsumentin näherzubringen, denn Essen ist sehr individuell.»
Obwohl die Pyramide wertvolle Hinweise liefert, sieht Beatrice Conrad in ihrer Arbeit oft, dass andere Faktoren eine viel grössere Rolle spielen. Unter anderem Stress, soziale Medien, kulturelle Prägungen oder der Preis von Lebensmitteln beeinflussen die Entscheidungen der Menschen stärker als offizielle Empfehlungen. «Wir lassen uns durch Umgebungsbedingungen, Verfügbarkeit und Produktplatzierung und vielen anderen Gegebenheiten beeinflussen beim Essen», führte die Ernährungsberaterin weiter aus. Daher sei es illusorisch zu erwarten, dass sich die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung aufgrund der neuen Empfehlungen grundlegend ändern werden.
In ihrem Vortrag widmete Beatrice Conrad auch einen Teil ihrer Ausführungen der Diskussion über Milch und Milchprodukte in der Ernährungsberatung. Obwohl das Thema Milch oft kontrovers diskutiert wird, hob Beatrice Conrad hervor, dass Milch nach wie vor ein wichtiger Bestandteil einer ausgewogenen Ernährung sei. Sie betonte: «Milch enthält Proteine, Fette und Kohlenhydrate in einem ausgewogenen Verhältnis und auch verschiedenste Vitamine und Mineralstoffe – sie ist also ein wertvolles Nahrungsmittel.»
Insbesondere für Menschen, die sich lacto-ovo-vegetarisch ernähren, seien Milchprodukte eine hochwertige Alternative zu Fleisch, da sie eine gute Protein- und Kalziumquelle darstellen. Die Ernährungsberaterin wies jedoch darauf hin, dass Milch als Lebensmittel und nicht als Getränk verstanden werden sollte: «Wer satt werden will, isst besser Milchprodukte in Form von Käse, Quark und Joghurt – wer den Durst löschen will, trinkt Wasser oder sonstige Getränke ohne Zucker.»
In ihrer praktischen Arbeit als Ernährungsberaterin sieht sich Beatrice Conrad immer wieder mit Mythen über Milch konfrontiert. So kursierten Behauptungen, dass Milch zu Entzündungen, Akne oder Antibiotikarückständen führe. Diese Mythen könnten jedoch anhand wissenschaftlicher Studien widerlegt werden. «Es gibt weitaus mehr Mythen als Fakten zum Thema Milch», erklärte sie, was die Unsicherheit vieler Konsumentinnen und Konsumenten in Bezug auf Milchprodukte verdeutlicht.
Zusammenfassend bleibt Milch für Beatrice Conrad ein wertvolles und ausgewogenes Nahrungsmittel, das insbesondere für bestimmte Bevölkerungsgruppen – wie Seniorinnen und Senioren – eine wichtige Rolle spielt. Gleichzeitig sei es entscheidend, individuell auf die Ernährungsgewohnheiten und Bedürfnisse der Klientinnen und Klienten einzugehen. Trotz der vielen Mythen um Milch sieht Beatrice Conrad darin nach wie vor ein unverzichtbares Element in der Ernährungsberatung, das in jeder Altersphase des Lebens einen Beitrag zur Nährstoffversorgung leisten kann.
Seit vielen Jahren wird in der Schweiz die Empfehlung ausgesprochen, fünf Portionen Obst und Gemüse pro Tag zu konsumieren. Doch, wie Beatrice Conrad in ihrem Vortrag erläuterte, halten sich nur 3,3 Prozent der Schweizer Bevölkerung an diese Regel. «Wenn die Schweizerin und der Schweizer es in 40 Jahren auf Basis dieser Empfehlungen nicht schaffen, ein bisschen mehr Gemüse und Obst zu essen, dann müssen wir davon ausgehen, dass andere Faktoren und andere Reize unsere Essentscheidungen mehr beeinflussen», kommentierte sie nüchtern.
In der Ernährungsberatung gehe es nicht nur darum, den Menschen die Pyramide näherzubringen. Beatrice Conrad erläuterte, dass die Bedürfnisse der Klientinnen und Klienten unterschiedlich seien: «Ob man nun heranwachsende Kinder gesund versorgen will oder ob Sportlerinnen und Sportler eine leistungsoptimierende Ernährung verfolgen oder ob man sich im Alter möglichst optimal ernähren will, damit die Nährstoffbedarfsdeckung gewährleistet ist und keine Mangelernährung auftritt, sind alles verschiedene paar Schuhe», erklärte sie. Hier zeigt sich die Notwendigkeit, die allgemeinen Ernährungsempfehlungen individuell anzupassen.
Ernährungsberaterinnen und -berater würden sich selbstverständlich an der Lebensmittelpyramide orientieren, doch die Beratung müsse immer auf den Lebensstil, die Vorlieben und die besonderen gesundheitlichen Bedürfnisse der Menschen eingehen. Und da es eine überwältigende Fülle an Faktoren gebe, welche unsere Essentscheidungen beeinflussten, sei die Umsetzung von Ernährungsempfehlungen unglaublich schwierig.
Beatrice Conrads Vortrag zeigte, dass die neue Lebensmittelpyramide ein wertvolles Werkzeug in der Ernährungsberatung bleibt, jedoch nicht alle Herausforderungen der modernen Ernährung lösen kann. «Wir haben keine gute Lösung, wie wir Gesundheit, Nachhaltigkeit, etc. bei der Ernährung unter einen Hut bringen können», erklärte die Ernährungsberaterin abschliessend und ergänzte: «Die Lösung wäre wahrscheinlich mehr Suffizienz – ein bisschen weniger von allem, denn ich glaube, wir haben ‹too much of everything›».
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