Jetzt müssen neue Sorten her
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Die aktuelle Situation in der Schweizer Kartoffelproduktion ist mehr als nur eine vorübergehende Schwierigkeit – sie ist ein Symptom tiefer liegender Herausforderungen innerhalb der gesamten Agrar- und Lebensmittelindustrie. Die Kombination aus schlechten Ernteerträgen, Qualitätsproblemen und einem akuten Mangel an Pflanzkartoffeln offenbart die Notwendigkeit einer umfassenden Strategie, die alle Aspekte der Wertschöpfungskette berücksichtigt.
Der deutliche Rückgang der Pflanzkartoffelerträge in der Erntesaison 2023 und die schlechte Qualität des Saatguts haben die Produzentinnen und Produzenten in eine prekäre Lage gebracht. Ruedi Fischer, Präsident der Vereinigung Schweizerischer Kartoffelproduzenten (VSKP), hob an der Mitgliederversammlung hervor, dass die Kartoffel unter optimalen Bedingungen eine lukrative Kultur sei, deren Anbau jedoch durch die letzten drei Jahre mit unterdurchschnittlichen Erträgen erheblich unter Druck geraten sei. Die Knappheit an hochwertigem Pflanzgut und die begrenzte Verfügbarkeit von Importen verschärften das Problem weiter und führten nun bereits zu Beginn der Saison zu grossen Problemen.
Einzelne Kartoffelproduzenten äusserten an der VSKP-Mitgliederversammlung aber zusätzlich Enttäuschung über die späte Reaktion auf die Engpässe und die mangelhafte Verteilung des verfügbaren Saatguts. Sie fordern proaktive Massnahmen und eine bessere Kommunikation innerhalb der Branche, um ähnliche Krisen in Zukunft zu vermeiden. Die Kritik richtet sich auch gegen die Strategien zur Beschaffung und Verteilung von Pflanzgut, die in diesem Jahr besonders unter den schwierigen Bedingungen gelitten haben.
Daniel Niklaus, der scheidende Präsident der Semag Saat- und Pflanzgut AG, wies im Gegenzug darauf hin, dass die Unvorhersehbarkeit der Marktbedingungen und die begrenzte Verfügbarkeit von Importen zu den aktuellen Schwierigkeiten beigetragen hätten: «Wir wussten zwar, dass wir zu wenig Pflanzgut geerntet hatten – dass wir dann aber auch keine Ware aus dem Ausland bekommen würden, konnten wir nicht ahnen.» Bis anhin sei die Schweiz übers Portemonnaie und der entsprechend grossen Kaufkraft auch in schwierigeren Jahren immer zu Ware gekommen. Aufgrund der weitreichenden Probleme in ganz Europa habe dieser Hebel dieses Jahr aber versagt.
Die Kartoffel gehört zur Familie der Nachtschattengewächse und ist heute nach Weizen, Reis und Mais weltweit das viertwichtigste Nahrungsmittel. Der Anbau von Kartoffeln ist entsprechend auch ein wichtiger Zweig der Schweizer Landwirtschaft. Die nährstoffreiche Knolle gedeiht hierzulande auf etwa 11’000 Hektar.
Für den Kartoffelanbau braucht es Pflanzkartoffeln oder Saatkartoffeln, die zur Aussaat neuer Kartoffelpflanzen dienen. Die spezielle Pflanzkartoffel unterscheidet sich von der herkömmlichen Speisekartoffel durch etliche Kriterien: Anbau, Auswahl und Behandlung der nach aussen hin gleichen Knollen gehen dabei jeweils etwas verschiedene Wege.
Für die Erzeugung von Pflanzkartoffeln ist deren Grösse weniger wichtig als ihre Menge, da sie nicht zum Verzehr gedacht sind. Aus diesem Grund werden die Pflanzkartoffeln enger auf dem Feld gepflanzt als die Speisekartoffeln. Auf einem Hektar Anbaufläche kann der Unterschied bei rund 20’000 Pflanzen liegen.
Damit die Keimfähigkeit möglichst gut erhalten bleibt, werden Pflanzkartoffeln nach der Ernte bei zwei bis maximal sechs Grad Celsius gelagert. Bei Speisekartoffeln ist das nicht nötig.
Bevor Saatkartoffeln verkauft werden dürfen, werden sie auf Viren und Bakterien sowie andere Krankheiten und Schädlinge geprüft. Kartoffeln, die als Pflanzkartoffeln ausgewiesen sind, sind auch immer sortenrein. So können sich die Produzentinnen und Produzenten von Speisekartoffeln dann auch darauf verlassen, dass die Sorte nachwächst, die sie als Pflanzkartoffel gekauft und gepflanzt haben.
Agroscope testet in Zusammenarbeit mit Swisspatat jährlich mehrere Dutzend neue Kartoffelsorten von namhaften und erfahrenen Züchtern aus der ganzen Welt auf deren Anbaueignung in der Schweiz. Nebst den agronomischen Eigenschaften werden weitere Kriterien wie Kocheigenschaften, industrielle Verarbeitung oder Lagerung getestet. Das zweistufige Prüfverfahren dauert mindestens 4 Jahre. Nur Sorten welche die strengen Prüfkriterien erfüllt haben, finden Zugang auf die empfohlene Sortenliste von Swisspatat.
Die Branche bemüht sich nun also um Anpassung und sucht nach Wegen, um die verfügbaren Ressourcen optimal zu nutzen. Vorschläge wie die Erhöhung der Pflanzdistanzen und die Weitergabe von Restmengen an Pflanzgut zielen darauf ab, die vorhandenen Bestände zu maximieren.
Und Lukas de Rougemont, Präsident des Schweizer Saatgutproduzentenverbands Swisssem, appellierte an die Produzenten, in die Pflanzgutproduktion einzusteigen, um die Unabhängigkeit der Schweizer Kartoffelproduktion zu stärken. Er betonte die zunehmende Bedeutung der Eigenproduktion von Pflanzgut, um die Abhängigkeit von Importen zu reduzieren und die Versorgungssicherheit zu erhöhen.
Christian Sohm, Direktor des Verbandes für Schweizerischen Früchte-, Gemüse- und Kartoffelhandel Swisscofel, sieht trotz der aktuellen Herausforderungen positive Marktvoraussetzungen: «Die Nachfrage nach Kartoffeln ist stabil bis steigend und Trends wie Regionalität und pflanzlicher Konsum spielen der Kartoffel in die Hände», erklärte er. Das biete Chancen für die Branche, erfordere allerdings auch eine Anpassung der Produktions- und Vermarktungsstrategien, um den Erwartungen der Verbraucherinnen und Verbraucher gerecht zu werden.
In der Diskussion um den Kartoffelpreis wies Christian Sohm ausserdem darauf hin, dass die Preise für Kartoffeln in den letzten Jahren leicht erhöht werden konnten, obwohl die Inflation und die öffentliche Wahrnehmung von Lebensmittelpreisen eine Herausforderung darstellten.
Martin Rufer, Direktor des Schweizer Bauernverbands, wies auf die Notwendigkeit hin, politische Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die produzierende Landwirtschaft und damit den Pflanzenbau stärkten und die Produktion fördere. Er kritisierte die aktuelle Politik, die den Pflanzenbau durch den Entzug von Wirkstoffen und strenge Auflagen schwäche. Und die Diskussion um die Kartoffelpreise und die wirtschaftlichen Bedingungen zeige, dass finanzielle Anreize und eine faire Preisgestaltung entscheidend seien, um die Produktion anzukurbeln und gleichzeitig die Qualität zu sichern.
Gleichzeitig mahnte Olivier Käser, Präsident der Fachgruppe Kartoffelveredelung der SCFA, die Branche aber zu einem positiveren Blick auf die vorhandenen Rahmenbedingungen und die Möglichkeiten, die Wertschöpfungskette der Kartoffel in der Schweiz zu stärken: «Ich finde, in der Schweiz sind die Rahmenbedingungen gar nicht so schlecht – wir haben nämlich alles, was es braucht für eine gut funktionierende Kartoffelbranche», argumentierte er, «wir haben Produzenten, wir haben Händler, wir haben Verarbeiter und die aktuellen Rahmenbedingungen bieten Möglichkeiten, darauf aufzubauen.»
Die Schweizer Kartoffelkrise zeigt, dass eine branchenübergreifende Zusammenarbeit und eine ganzheitliche Betrachtung der Produktionskette notwendig sind, um nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Die Krise bietet auch die Gelegenheit, die Produktion zu überdenken, Innovationen voranzutreiben und die Resilienz der gesamten Branche gegenüber zukünftigen Herausforderungen zu stärken.
Die Entwicklung neuer, resistenter Kartoffelsorten und die Optimierung der Anbautechniken sind langfristige Ziele, die die Branche verfolgen will und muss. So betonte Ruedi Fischer die Bedeutung von Innovationen in der Züchtung, um den Herausforderungen durch Klimawandel und Krankheiten zu begegnen.
Schlussendlich hänge die Zukunft der Schweizer Kartoffelproduktion aber von vielen Faktoren ab, doch die Entschlossenheit und Resilienz der Produzentinnen und Produzenten könnten der Schlüssel zur Überwindung dieser Krise sein, ist der VSKP-Präsident überzeugt. Und die gemeinsamen Anstrengungen aller Beteiligten – von den Produzenten über die Verarbeiter und Händler bis hin zu den politischen Entscheidungsträgern – seien entscheidend, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten und die Schweizer Kartoffelproduktion zukunftsfähig zu machen.
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